Zusammenfassung: Ethik der Digitalität (19.7.2019)

Das Thema „Virtualität“ ist nicht nur für die Ontologie der Digitalität zentral, die der Frage nach der Existenzweise digitaler Objekte nachgeht, sondern auch für die Ethik. Denn es stellt sich die Frage, wie virtuelle Ereignisse, Handlungen und Akteure („E-Personen“) genauer zu verstehen sind. Angesichts der raumzeitlichen Logik der Digitalität stellt sich die Frage, ob es einer neuartigen Ethik bedarf, oder diese Phänomene mit herkömmlichen ethischen Normen und Begriffen geregelt werden können. Benötigen wir also neben einer „analogen“ Ethik auch eine „digitale“ bzw. „virtuelle“ Ethik?  Diese Frage hängt ganz entscheidend davon ab, ob durch die Digitalisierung neuartige ethische Probleme entstehen, die mit bisherigen Begriffen nicht erfasst werden können. Fest steht jedenfalls: Digitale Phänomene sollten nicht vorschnell in bestehende ethische Kontexte eingeordnet und so in ihrer Bedeutung verkürzt werden (wie dies ein „digitaler Humanismus“ (Nida-Rümelin) zu tun droht). Eine Ethik der Digitalität muss erst noch entwickelt werden. Dies wiederum setzt eine genaue Klärung ihrer Ontologie voraus, die zu einer Neubestimmung von „Akteur“, „Handlung“, „Ereignis“, „Verantwortung“ und „Person“ führen muss. Denn es handelt sich bei digitalen Interaktionen im Internet nicht um Simulationen, sondern um eigene Realitäten, die unserer Freiheit entspringen.

Entscheidende Grundlage für eine Ethik der Digitalität ist das Internet. Es ist derjenige Raum, in dem sich neuartige ethische Probleme am ehesten zeigen. Das Internet hat die Tendenz, abgekapselte Teilnetze („Intranetze“) mit anderen Netzen zu verbinden – vom Intranetz zum Internet. Seine Struktur ist die reine Form der Kommunikation und Verbindung. Sobald jedoch Verbindungen bestehen, stellt sich die Frage nach der Verbindlichkeit, d.h. nach Normen, die die Art und Weise der Verbindung regeln und ethisch qualifizieren. Die veränderte Raum- und Zeitlogik des Internets, das keiner physikalischen Reibung mehr ausgesetzt ist und vielmehr eine virtuelle Realität darstellt, bedingt eine Modifikation unseres Verständnisses von Interaktion. Wir treten darin nicht mehr physisch miteinander in Beziehung, sondern virtuell. Handlungen bestehen zumeist im Erstellen und Teilen von Botschaften, d.h. in der Selbstpositionierung im Geflecht der Meinungen und Informationen. Unsere Suchanfragen im Netz konstituieren unsere Persönlichkeit: Wir sind, was wir suchen, schreiben und teilen. Damit findet zum einen eine Vergegenständlichung bzw. Quantifizirung unserer Person statt, zum anderen aber auch eine Entäußerung oder Externalisierung unserer Subjektivität, die sich in das Internet raum- und zeitlos integriert. Hier stellt sich auf eine dringende Weise die Frage nach Datenschutz als Persönlichkeitsschutz: Wie soll und darf mit unseren privaten Daten umgegangen werden. Sind wir rein digitale Objekte der Auswertung?

Auf der Seite www.digitalcharta.eu sind 23 Artikel veröffentlicht worden, die sich als „Charta der Digitalen Grundrechte in der Europäischen Union“ verstehen. Diese wurde im Jahr 2016 dem Europäischen Parlament in Brüssel und der Öffentlichkeit zur weiteren Diskussion übergeben. Alle 23 Artikel sind unter der angegebenen Adresse kommentierbar. Dies ist insofern zentral, als eine Meinungsbildung zum Thema „digitale Ethik“ noch ganz am Anfang steht. Zudem ist noch nicht absehbar, zu welchen neuen ethischen Problemen die Digitalisierung führen wird. Artikel 2 („Freiheit“) postuliert: „Jeder hat ein Recht auf freie Information und Kommunikation […]. Es beinhaltet das Recht auf Nichtwissen“. Dies ist insofern problematisch, als hier einem Akteur Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann, wenn er sich nicht gründlich genug informiert. Gibt es nicht vielmehr in Zeiten der freien Verfügbarkeit von Informationen die Pflicht zum Wissen? Besonders zentral scheint Artikel 3 zu sein: „Jeder Mensch hat das Recht auf eine gleichberechtigte Teilhabe in der digitalen Sphäre“. Artikel 7, der dem Thema „Algorithmen“ gewidmet ist, fordert: „Jeder hat das Recht, nicht Objekt von automatisierten Entscheidungen von erheblicher Bedeutung für die Lebensführung zu sein. Sofern automatisierte Verfahren zu Beeinträchtigungen führen, besteht Anspruch auf Offenlegung, Überprüfung und Entscheidung durch einen Menschen. Die Kriterien automatisierter Entscheidungen sind offenzulegen.“ Artikel 8 („Künstliche Intelligenz“) fordert: „Ethisch-normative Entscheidungen können nur von Menschen getroffen werden. […] Für die Handlungen [!] selbstlernender Maschinen und die daraus resultierenden Folgen muss immer eine natürliche oder juristische Person verantwortlich sein.“ Ganz besonders zentral ist Artikel 18 („Recht auf Vergessenwerden“), da er eine neuartige Problematik des Internets betrifft: „Jeder Mensch hat das Recht auf digitalen Neuanfang. Dieses Recht findet seine Grenzen in den berechtigten Informationsinteressen der Öffentlichkeit“. Das ethische Problem besteht hier darin, dass das Internet nichts vergisst. Somit können vergangene Handlungen immer wieder präsentiert und ins Gedächtnis gerufen werden. Diese Probematik ist eine direkte Folge des „atopischen Präsentismus“ und der „Interobjektivität“ der Digitalität, und unterscheidet sich von der Logik der Kultur, die alle Ereignisse sukzessive dem Schleier des Vergessenwerdens übergibt. Im Internet entbrannte eine Diskussion über Artikel 20 („Bildung“), in dem in Absatz 2 konstatiert wird: „Digitalisierung ist eine elementare Bildungsherausforderung. Sie besitzt einen zentralen Stellenwert in den Lehrplänen öffentlicher Bildungseinrichtungen.“ Ein Nutzer schrieb dazu: „Bei Bildungsmedien in der Schule und Vorschule […] soll auf Digitalisierung verzichtet werden. Begründung: Vermeidung Digitaler Jugend-Demenz (hier Synonym: Digitale Demenz)“. Übersehen wird dabei die Möglichkeit, analoge mit digitalen Medien fruchtbar zu verknüpfen. Denn ohne Frage ist das haptische und sinnliche Lernen von Kindern für deren Entwicklung unverzichtbar.

Zu kurz kommen jedoch in diesen Artikeln die Pflichten, die mit den digitalen Rechten einhergehen. Ein Recht auf einen analogen Raum bzw. ein analoges Residuum scheint nur noch so lange bestehen zu können, bis sich die Vorzüge der Digitalität in allen Bereichen der Lebenswelt bemerkbar machen – ähnlich so, wie es beim Paradigmenwechsel von dampf- zu elektrisch betriebenen Maschinen der Fall war. Zu wenig berücksichtigt werden in diesem Zusammenhang auch spezifische Tugenden, die in der Infosphäre relevant werden. In erster Linie sei hierbei auf die Medienkompetenz verwiesen, also das Wissen darum, welche Informationen relevant, gesichert und glaubwürdig sind.