Zusammenfassung: Fichte und Kant

Fichte begegnete Kants Philosophie als Hauslehrer in Leipzig im Jahr 1790. In einem Brief an seinen ehemaligen Mitschüler Friedrich August Weißhuhn aus dem Spätsommer dieses Jahres schreibt er: „Ich lebe in einer neuen Welt, seitdem ich die »Kritik der praktischen Vernunft« gelesen habe. Sätze, von denen ich glaubte, sie seien unumstößlich, sind mir umgestoßen; Dinge, von denen ich glaubte, sie könnten mir nie bewiesen werden, z.B. der Begriff einer absoluten Freiheit, der Pflicht u.s.w., sind mir bewiesen, und ich fühle mich darüber nur um so froher. Es ist unbegreiflich, welche Achtung für die Menschheit, welche Kraft uns dieses System gibt!“ In diesem Zitat finden wir zentrale Begriffe, die für Kants Philosophie zentral sind: „absolute Freiheit“, „Pflicht“, „Achtung“, „Menschheit“ und „System“. Fichte gesteht seinem Freund, dass er bis zur Kenntnis von Kants Philosophie ein „System“ vertreten hatte, welches durch eine nur „scheinbare Consequenz“ charakterisiert war. Gemeint ist damit das System des Determinismus, also die Auffassung, dass alle Ereignisse in der Welt, auch unser Denken und Handeln, durch Gesetze vollständig (vorher)bestimmt sind, so dass es nicht in unserer Macht liegt, absolut frei zu handeln. Wenn wir aber nicht absolut frei handeln können, dann, ist auch der Begriff der Pflicht für uns bedeutungslos, da er impliziert, dass wir für unsere freien – guten wie bösen – Handlungen verantwortlich sind. Fichte hat dieses Problem des strengen Determinismus später auch im ersten Buch seiner Schrift Die Bestimmung des Menschen (1800) geradezu existenzphilosophisch ausgearbeitet. Er schreibt darin über den Determinismus: „kalt und frech tritt das entgegengesetzte System hin […]. Ich bin nicht und ich handle nicht, wenn ich dasselbe höre. Der Gegenstand meiner innigsten Zuneigung ist ein Hirngespinnst, eine greiflich nachzuweisende grobe Täuschung. Statt meiner ist und handelt eine fremde mir ganz unbekannte Kraft“ (II, 196). Fichte erkennt in Kants Philosophie also einen Weg aus dem Determinismus, einen Weg, der uns in unserer Freiheit auch wieder Moral und Pflicht rechtfertigen lässt.

In seiner Schrift „Über den Begriff der Wissenschaftslehre“ aus dem Jahr 1794 bestimmt Fichte seinen Begriff von Philosophie. Fichte argumentiert, dass Philosophie eine Wissenschaft ist, doch der Gegenstand dieser Wissenschaft unklar sei. Er vertritt die These, dass wir den Begriff der Wissenschaft erst einmal näher bestimmen müssen, und aus diesem Begriff selbst das Wesen der Philosophie erkennen können. Dazu diskutiert Fichte die verschiedenen Bedingungen, die an eine Wissenschaft gestellt werden. Eine Wissenschaft muss eine systematische Form aufweisen: „alle Sätze in ihr hängen in einem einzigen Grundsatze zusammen, und vereinigen sich in ihm zu einem Ganzen“. Diese systematische Form muss eine einheitliche, holistische Form sein, wonach „die einzelnen Sätze überhaupt nicht Wissenschaft wären, sondern dass sie erst im Ganzen, durch ihre Stelle im Ganzen, und durch ihr Verhältnis zum Ganzen es werden“. Fichte argumentiert, dass die verschiedenen Sätze in einer Wissenschaft nicht dadurch eine Einheit erhalten, dass sie bloß zusammengesetzt werden (wie es das Wort „System“ nahelegt), sondern dass sie zugleich so organisiert sind, dass sie durch einen ausgezeichneten Satz ihre Gewissheit vermittelt bekommen. Ficht nennt einen solchen systembegründenden Satz einen „Grundsatz“, der bereits vor der Verbindung mit den anderen Sätzen gewiss ist. Nach Fichte muss jede Wissenschaft genau einen solchen Grundsatz haben, der sie begründet, und von dem dann ihre weiteren Sätze systematisch abhängen. Fichte begründet die Systematizität einer Wissenschaft durch die (logische?) Transitivität, also die Übertragbarkeit der Gewissheit, die der Grundsatz garantiert: „wenn der Satz A gewiss sey, müsse auch der Satz B — und wenn dieser gewiss sey, müsse auch der Satz C u.s.f. gewiss seyn; und diese Verbindung heisst die systematische Form des Ganzen, das aus den einzelnen Theilen entsteht.“