Um das Phänomen der Massenmorde im Nationalsozialismus (und auch in anderen totalitären Systemen) besser verstehen zu können, genügt es nicht, die individuellen Dispositionen und Motivationen der Täter in den Blick zu nehmen. Vielmehr müssen wir uns mit der generellen Verführungsstruktur von Ideologien befassen. In ihrer Schrift über „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1955) hat Hannah Arendt sehr scharfsinnig das Wesen der Ideologie beschrieben. Häufig treten Ideologien in politischen Kontexten auf, in denen eine Führerfigur eine „totale Verantwortlichkeit“ im Staat beansprucht (591). Dies führt dazu, dass die untergeordneten Funktionäre ihre Verantwortung an den Führer delegieren können, ihre Freiheit gewissermaßen aus Freiheit aufgeben. Somit können sie auch Handlungen, die ihnen moralisch bedenklich erscheinen, durch Berufung auf eine Höhere Instanz und Befehle, die Notwendigkeit des (blinden) Gehorsams, rechtfertigen. Man erscheint so nur als ein kleines Rädchen im Getriebe, das im Grunde nichts ausrichten kann. Damit zusammen hängt nach Arendt die „totalitäre Methode“, dass den Funktionären „niemals die Gründe für bestimmte Aufgaben“ angegeben werden (591). Damit existiert in einer totalen Herrschaft die Fiktion eines einzelnen Führer-Akteurs mit einem „Verantwortungsmonopol“ bzw. „Willensmonopol“ und seiner ihm Untergebenen, die allesamt scheinbar nur ausübende Organe sind.
Arendt bemerkt, dass Ideologien dynamisch verfasst sind. Sie befassen sich nicht mit dem Ist-Zustand der Welt, sondern wollen diesen im Licht des Gewesenen und der Zukunft motivieren. Ideologien beanspruchen „totale Welterklärung“ und geben vor, die Logik der geschichtlichen Entwicklungen zu durchschauen und damit alle Ereignisse in einen größeren, notwendigen Zusammenhang einordnen zu können. Ideologien treffen Behauptungen „mit absoluter Folgerichtigkeit“ (719). Dies führt dazu, dass sich Ideologien gegenüber möglicher Korrektur und Kritik von außen selbst immunisieren. Durch ihr Ideal der absoluten Gewissheit ähnelt die Ideologie der Strategie des Moralismus. Zugleich öffnet sie sich dem Gesetzes- und Objektivitätsideal der Naturwissenschaften (dies zeigt sich z.B. an der Vorliebe des Nationalsozialismus am vermeintlich objektiven (Sozial-)Darwinismus). Arendt fasst das Wesen der Ideologie treffend zusammen als die „nie versagende[] Folgerichtigkeit eines ganz abstrakten logischen Räsonierens“ (724).
In seinem Buch „Täter: Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden“ (2005) beschreibt Harald Welzer die individuellen und konkreten psychologischen Auswirkungen bzw. Handlungen einer Ideologie. Welzer wendet sich gegen Erklärungsansätze, die unmittelbar nach einer individuellen (pathologischen) Täterpersönlichkeit Ausschau halten und direkt nach dem 2. Weltkrieg prominent waren (z.B. Horkheimer/Adorno, Fromm, Kogon). Welzer wendet dagegen ein, dass sich die Täter des Nationalsozialismus „hinsichtlich ihrer Sozialisations- und Herkunftsmerkmale, ihrer Religions- und Schichtzugehörigkeit, ihres Alters, ihres Geschlechts etc. in keiner Weise von der Gesamtbevölkerung unterscheiden“ (42). Deswegen interessiert die Frage, nach den „Prozessen und Situationen […], in denen die Täter sich dazu entschieden haben, zu Mördern zu werden“ sowie die Frage, „wie sie die Prozesse und Situationen, in denen sie sich befanden, wahrgenommen und gedeutet haben.“ (43) Welzers „Sozialpsychologie des Massenmords“ (43) untersucht daher die Fragen, „wie die Täter die Situation wahrgenommen und interpretiert haben, in denen sie töteten, welche Binnenrationalität (die von außen betrachtet ganz und gar irrational sein kann) ihnen ihr Handeln als sinnvoll erscheinen ließ, und wie die sozialen und psychischen Prozesse und situativen Dynamiken waren, die ihrer Entscheidung zum Töten vorausgegangen sind“ (43). Daraus folgt, dass ideologisch bedingte Massenmorde nicht unerklärliche Phänomene sind, sondern einer gewissen Logik gehorchen, die psychologisch und soziologisch weiter analysiert werden kann. Aber auch philosophisch kann diese Logik weiter erhellt werden. Es handelt sich nämlich um eine ähnliche Strategie, wie sie sich in anderen Formen des Unmoralischen angesichts des Phänomens der Selbsttäuschung und Selbst-Rechtfertigung zeigt. Welzer bringt dafür den Begriff der „partikularen Rationalität“ (46) ins Spiel, die mit den rechtfertigenden Interpretationen und Schlussfolgerungen des Akteurs zusammenhängt. Immanuel Kant hat diese Form der Rationalität sehr treffend durch seinen Begriff des „Vernünftelns“ gefasst.