Zusammenfassung: Mill und Sidgwick

John Stuart Mill hatte folgenden „Beweis“ für die Richtigkeit seines Utilitarismus vertreten: „Der einzige Beweis dafür, dass ein Gegenstand sichtbar ist, ist, dass man ihn tatsächlich sieht. Der einzige Beweis dafür, dass ein Ton hörbar ist, ist, dass man ihn hört. Und dasselbe gilt für die anderen Quellen unserer Erfahrung, Ebenso wird der einzige Beweis dafür, dass etwas wünschenswert (desirable) ist, der sein, dass die Menschen es tatsächlich (actually) wünschen.“ (105) Es ist sofort ersichtlich, dass die Übertragung von sichtbar und hörbar auf „wünschenswert“ nicht korrekt ist. Denn „wünschenswert“ ist im Gegensatz zu sichtbar und hörbar ein normatives Prädikat, während letztere nur deskriptive Prädikate sind. Nun können wir Mill so verstehen, dass etwas dann wünschenswert ist, wenn sich (alle) Menschen es tatsächlich wünschen. Dies wäre dann aber ein bloß kontingentes Faktum, welches sich über die Zeit hinweg ändern könnte. Das Wort „actually“ hat jedoch verschiedene Bedeutungen. Es kann so viel bedeuten wie „wirklich“ bzw. „tatsächlich“ im Gegensatz zu „möglich“, aber auch „eigentlich“ oder „im Grunde“. Verstehen wir „actually“ im letzteren Sinne, so würde Mill damit sagen, dass das wünschenswert ist, was sich (alle) Menschen im Grunde wünschen. Damit könnte Mill dem Problem der Kontingenz entgehen, etwa dann, wenn man „im Grunde“ im Sinne von „vernünftigerweise“ versteht. Nach Mill gilt, dass es dasselbe ist, etwas für wünschenswert und für lustvoll zu halten.

Mill untersucht das Verhältnis von Tugend und Glück. Zwar kann die Tugend durchaus als Mittel zu Erreichung von Glück genutzt werden, allerdings ist es auch möglich, dass sie zu einer Art Selbstzweck wird, insofern sie selbst als „Teil des Glücks erstrebt und geschätzt“ wird (109 f.).

Das Nützlichkeitsprinzip besteht nach Mill darin, dass „die menschliche Natur so beschaffen ist, dass sie nichts begehrt, was nicht entweder ein Teil des Glücks oder ein Mittel zum Glück ist, dann haben wir keinen anderen und benötigen“ (115 f.). Daraus folgt, dass „Glück der einzige Zweck menschlichen Handelns [ist] und die Beförderung des Glücks der Maßstab, an dem alles menschliche Handeln gemessen werden muss woraus notwendig folgt, dass es das Kriterium der Moral sein muss, da ja der Teil im Ganzen enthalten ist.“ (115 f.)

Wir können diese Argumentation folgendermaßen formalisieren:

(1) Die menschliche Natur begehrt entweder einen Teil des Glücks oder das Mittel zum Glück

(2) Glück ist der einzige Zweck des Handelns

(3) Die Beförderung des Glücks der Maßstab, an dem alles menschliche Handeln gemessen werden muss

(4) Moralisches Handeln ist ein Teil des menschlichen Handelns

(5) Glücksbeförderung ist das Kriterium der Moral, da ja der Teil im Ganzen enthalten ist

Mill unterscheidet ausdrücklich zwischen Begehren als dem „Zustand passiver Reizbarkeit“ und dem Willen als das „aktive Prinzip“ (118). Begehren und Wille verhalten sich so zueinander, dass der Wille aus dem Begehren entspringt, gewissermaßen in ihm fundiert ist, er aber „mit der Zeit eigene Wurzeln schlagen und sich von der Mutterpflanze so vollständig lösen [kann], dass wir in Fällen gewohnheitsmäßiger Zwecke etwas häufig nicht deshalb wollen, weil wir es begehren, sondern deshalb begehren, weil wir es wollen“ (118). Als Beispiel für diesen Willen führt Mill die „Macht der Gewohnheit“ an, die nicht unmittelbar von Lust und Unlust bedingt ist.

Der englische Philosoph Henry Sidgwick (1838-1900) hat in seiner Schrift The Methods of Ethics (1871) versucht, das Prinzip des Utilitarismus so zu fassen, dass es nicht tautologisch ist. Die in Mills Nutzenprinzip enthaltene normative Forderung „dass man das für einen selbst Gute anstreben sollte“ ist nach Sidgwick deswegen tautologisch, „wir »gut« als das, »was man anstreben sollte«, definieren könnten.“ Sidgwick modifiziert deswegen Mills Utilitarismus insofern, als er es mit dem Zusatz „das für einen insgesamt gesehen Gute“ versieht. Dies impliziert eine zeitliche Dimension, so dass das Gute nur durch Abwägung ermittelt werden kann. Sidgwick bezeichnet dies „als das Prinzip der »unparteiischen Sorge um alle Teile unseres bewussten Lebens«“ und spezifiziert es folgendermaßen: „dass das Zukünftige als solches weder weniger noch mehr als das Jetzige gelten darf.“ (94 f.)