Zusammenfassung: Praktische Vernunft

Um unseren Willen formieren, bilden und in eine Handlung überführen zu können, d.h. um unsere Absichten und Ziele verwirklichen zu können, benötigen wir praktische Vernunft. Während sich die theoretische Vernunft auf das Erkennen bezieht, das nicht auf Handeln bezogen ist, bezieht sich die praktische Vernunft auf unser Handeln. Theoretische und praktische Vernunft sind zwei verschiedene Anwendungsweisen unseres Vermögens der Vernunft bzw. Rationalität. Neben unserem Vernunftvermögen besitzen Personen ein Willensvermögen (bzw. ein unteres und oberes Begehrungsvermögen) sowie ein Wahrnehmungsvermögen (unsere Sinnesorgane). Es gibt verschiedene rationale Operationen, die im Kontext des Handelns von Bedeutung sind: Vergleichen Abwägen (z.B. von Gründen), Verallgemeinern, auf Widersprüchlichkeit hin prüfen, Schlüsse ziehen und urteilen, das richtige Mittel zu einem gegebenen Zweck finden und wählen („instrumentelle Vernunft“). Während Personen und auch nichtmenschliche Tiere instrumentelle Vernunft besitzen können, um etwa zum Erreichen eines Ziels sich ein Werkzeug zu basteln (vgl. etwa Krähen), so wird in der Philosophie häufig die Auffassung vertreten, dass nur Personen moralische praktische Vernunft besitzen, d.h. durch ihre praktische Vernunft moralische Normen rechtfertigen, erkennen und befolgen können. Der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) etwa vertrat die These, dass es neben hypothetischen Imperativen auch „kategorische Imperative“ gibt. Hypothetische Imperative haben die Form

„Wenn Du X erreichen möchtest, dann musst Du dafür Y tun!“

Wenn ich etwa eine gute Note im Philosophie-Studium erreichen möchte, muss ich genügend Zeit in das Lernen, Lesen und Diskutieren von Texten investieren. Allerdings gilt der hypothetische Imperativ nur unter der Bedingung, dass ich auch eine gute Note im Philosophie-Studium erreichen möchte. Nicht alle Menschen wollen Philosophie studieren, d.h. der Imperativ gebietet nur relativ zu einem bestimmten Ziel.

Anders verhält es sich mit kategorischen Imperativen. Sie gelten nach Kant für alle vernünftigen Wesen, d.h. Personen, und haben die Form

„Tue X unbedingt!“

Kategorische Imperative drücken kein instrumentelles Verhältnis zu einem beliebigen Zweck aus, sondern gebieten unbedingt, d.h. sie setzen voraus, dass wir bestimmte Zwecke haben bzw. haben sollen. Solche kategorischen Zwecke sind nach Kant moralische Zwecke. Ein Beispiel für den kategorischen Imperativ lautet etwa „Du sollst nicht lügen!“. Hier könnte man nun einwenden, dass doch Lügen in manchen Situationen nicht moralisch problematisch ist, etwa im Falle einer Notlüge, um höflich zu sein und eine andere Person nicht zu kränken. Kant wendet jedoch ein, dass zu lügen intrinsisch, also an sich, moralisch schlecht ist. Denn zum einen untergräbt die Lüge unsere gegenseitige Vertrauensbasis, zum andern könnten wir dann immer wieder Gründe anführen, warum in einer bestimmten Situation die Lüge im Sinne einer bloßen Notlüge verstanden werden kann. Kants kategorischer Imperativ fordert, dass wir unsere subjektiven Handlungsgrundsätze, die er „Maximen“ nennt, daraufhin durch praktische Vernunft überprüfen, ob sie sich widerspruchsfrei verallgemeinern lassen. Ich kann mir etwa zur Maxime machen, mir immer in peinlichen Situationen eine Notlüge zu gestatten, um eine andere Person nicht zu kränken. Können wir eine nicht widerspruchsfrei verallgemeinern, so handelt es sich um unmoralische Handlungsgrundsätze, wie im Falle der Lüge. Der kategorische Imperativ fordert nach Kant, dass wir andere Menschen nie bloß als Mittel zum Zweck gebrauchen (z.B. als bloße Arbeitssklaven), sondern immer auch als einen Selbstzweck, die einen absolute Würde haben (vgl. den Art. 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“). D.h. der kategorische Imperativ fordert, dass die instrumentelle Vernunft in ihrer Anwendung eingeschränkt und der moralischen Vernunft untergeordnet wird. Nach Kant vermag unsere praktische Vernunft nicht nur das moralisch Gute zu erkennen, sondern auch zu begründen und zu motivieren.

Dass es so etwas wie moralisch praktische Vernunft gebe, hat in der Geschichte der Philosophie der schottische Philosoph David Hume (1711-1776) bestritten. Er vertrat folgende provokative Thesen:

„Es läuft der Vernunft nicht zuwider, wenn ich lieber die Zerstörung der ganzen Welt will, als einen Ritz an meinem Finger.“

„Die Vernunft ist nur der Sklave der Affekte und soll es sein; sie darf niemals eine andere Funktion beanspruchen, als die, denselben zu dienen und zu gehorchen.“