Zusammenfassung Seminar „Die Sünde und das Böse“ (2. Sitzung, 16.4.2018: Der Sündenfall)

Die Sünde und das Böse sind Themen, die die Theologie und Philosophie immer schon beschäftigt haben, da sie das Zentrum menschlicher Existenz und Freiheit betreffen. Das Seminar will sich mit diesen Themen aus historischer und systematischer Perspektive befassen: Wie hat sich die Auffassung der Sünde und des Bösen im Laufe der Zeit gewandelt? Worin bestehen die Konstanten der Befassung? Inwiefern ist sie jeweils theologisch-philosophisch überzeugend, inwiefern problematisch? Während die Philosophie das Böse aus der inner- und intersubjektiven Struktur des menschlichen Subjekts zu verstehen sucht, bezieht die Theologie eine weitere Dimension, die man Transzendenz nennen könnte, mit ein, insofern das Subjekt nun auch in seinem Verhältnis zu Gott reflektiert wird. Das Böse und die Sünde sind keine statisch vorliegenden Objekte oder dunklen Mächte, sondern Vollzüge, Bewegungen und Verstrickungen des Subjekts, die sich in komplexen Relationen – inner-, inter-, und transsubjektiv – vollziehen und weiter verständlich machen lassen.

Den Ausgangspunkt einer jeder Befassung mit dem Bösen ist der Mythos des Sündenfalls, wie er sich im ersten Buch Mose („Genesis“) der jüdisch-christlichen Bibel findet. Darin wird die Urkonstellation und Ursituation des Menschen in der Welt als Geschöpf in seinem lebensweltlichen Verhältnis zu Gott als Schöpfer dargelegt. In der zweiten Schöpfungsgeschichte (Gen 1,1-2,4a) wird der Mensch (hebr. adam) von Gott aus dem Staub der Erde (adamah) gebildet und durch Einblasen des Odems des Lebens (neschamah) vollendet. Erst dann schafft Gott den Garten Eden, in den er den Menschen versetzt, mit dem Auftrag, diesen zu bebauen und zu bewahren (Gen 2,15). Im Zentrum des Gartens befindet sich der Baum des Lebens zusammen mit dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen (ez ha-da‛at tov wa-ra‛). Leben, menschlich Existenz und die Objektivität moralischer Normen werden damit als Grundkoordinaten in dieser Urkonstellation untrennbar aufeinander bezogen. Gott verbietet dem Menschen, vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen, da ihm andernfalls der Tod, die Sterblichkeit drohe, die das Ende des Lebens bedeutet. Die Erkenntnis des Guten und Bösen ist also nur zum Preis der Sterblichkeit erkaufbar.

Der Sündenfall, wie er in Gen 3 beschrieben wird, ist die Geschichte einer Verführung. Das Verhältnis von Sünde und Verführung wird  sehr anschaulich in dem Gemälde „Die Sünde“ von Franz von Stuck aus dem Jahr 1893 symbolisch dargestellt, welches eine halb entblößte Frau zeigt, um deren Schulter sich im Farbenspiel von Licht und Schatten eine Schlange windet (es ist in der Münchner Neuen Pinakothek ausgestellt). Der listigen Schlange kommt in der Urgeschichte die Rolle der Verführerin zu, indem sie gegenüber Adams Frau Eva Gottes Androhung der Sterblichkeit relativiert, ja sogar in Aussicht stellt, dass Adam und Eva durch das Essen vom Baum der Erkenntnis „wie Gott“ würden und Wissen davon erlangten, „was gut und böse ist“ (Gen 3,5). Indem beide vom Baum der Erkenntnis essen, erkennen sie sogleich ihre Nacktheit, über die sie sich nun schämen und die sie nun durch Kleidung verdecken. Diese Scham äußert sich auch so, dass sich Adam und Eva vor Gott im Garten Eden aus Furcht verstecken. Der Sündenfall wird damit zum kausalen Erklärungsgrund für die Lebensform der Schlange auf dem Boden und ihrer natürlichen Feindschaft mit dem Menschen, für die Schmerzen der Frau bei der Geburt ihrer Kinder und ihre Abhängigkeit vom Mann sowie für die Mühe des Mannes bei der Arbeit zum Lebenserhalt und die generelle Vergänglichkeit der Menschen. Das erste Buch Mose liefert also eine Ätiologie für das malum physicum – das körperliche Leid und Übel –, insofern dieses aus dem malum morale – dem moralisch Bösen heraus als verdiente Strafe erklärt wird, welche wiederum im malum metaphysicum – der endlichen und zugleich freien Geschöpflichkeit des Menschen fundiert ist. Diese Strafe ist aber nur möglich aufgrund der Freiheit, die Adam und Eva als Geschöpfe besitzen. Die Erkenntnis des Guten und Bösen fällt zusammen mit der Tat des Bösen, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Die verbotene Frucht des Baumes der Erkenntnis ist damit ein Symbol für die Faszination und Verlockung des Bösen – sich selbst als Herrscher der Welt zu inthronisieren, ohne an verbindliche Gebote gebunden zu sein. Die geschöpfliche Freiheit des Menschen bringt untrennbar mit sich die Versuchung, böse zu handeln. Das Erlangen der Erkenntnis des Bösen durch das Begehen des Bösen selbst ist also die allein dem Menschen mögliche Weise, diese Erkenntnis zu erlangen. Durch diese Erkenntnis der Mensch in einer gewissen Weise „wie Gott“ (Gen 3,5). Von Gott unterschieden ist er jedoch dadurch, dass er nicht von dem Baum des Lebens essen darf, was ihm ein ewiges Leben garantieren würde. Um dies zu verhindern, werden Adam und Eva schließlich von Gott aus dem Paradies vertrieben und ihnen wird der Eingang dauerhaft verwehrt (diese Vertreibung ist ebenfalls sehr treffend dargestellt in Stucks gleichnamigem Bild aus dem Jahr 1890, indem der Erzengel Gabriel mit seinem Flammenschwert die Grenzen zum Paradies setzt). Damit ist die Grenze von Mensch und Gott zeichenmäßig strukturiert und die anthropologische Grundsituation, aus der heraus das Böse definiert wird, vorgegeben. Der sterbliche Mensch steht in seiner wirklichen Freiheit zum Bösen zwischen unfreiem Tier, das keine Scham kennt und göttlicher Ewigkeit des Guten. Auch wenn der Mensch nicht vom Baum des Lebens Essen darf, so trägt doch seit dem Sündenfall die erste Frau den Namen Eva (hebr. chawwah), was so viel wie „Leben“ bedeutet. Es ist dasjenige sich reproduzierende Leben von Vergehen und Entstehen, welches den Menschen von Gott unterscheidet.