Zusammenfassung Seminar „Formen des Unmoralischen“, 6.5.2019

Die christlich-theologische Tradition kennt folgende normative Reihenfolge der Sieben Todsünden:

  1. Hochmut (superbia)
  2. Habgier (avaritia)
  3. Neid (invidia)
  4. Zorn (ira)
  5. Wollust (luxuria)
  6. Völlerei (gula)
  7. Trägheit (acedia)

Die Sieben Todsünden zählen zusammen mit dem Verstoß gegen die Zehn Gebote zu den sogenannten „Hauptsünden“. Die Todsünden werden traditionell mit den Sieben Tugenden (darunter drei theologische und vier antike Kardinaltugenden) kontrastiert

  1. Glaube (fides)
  2. Liebe (caritas)
  3. Hoffnung (spes)
  4. Klugheit (prudentia)
  5. Gerechtigkeit (iustitia)
  6. Tapferkeit (fortitudo)
  7. Mäßigung (temperantia)

Nun stellt sich die Frage, warum gerade die genannten „Sünden“ problematisch sind. Beim Verstoß gegen einige der Zehn Gebote ist dies unmittelbar einleuchtend, denn wer lügt, stiehlt oder ungerechtfertigt tötet, schadet anderen. Wer hingegen dem Laster der Völlerei anhängt, schadet doch niemandem, außer möglicherweise seiner Gesundheit, ebenso wie im Falle der Trägheit und der Wollust. Ebenso ist Neid an sich noch keine Handlung, die einer anderen Person Schaden zufügt, da dieser sich meistens innerlich vollzieht und von außen unbemerkt bleibt. Es scheint daher, dass die christlich-theologische Tradition gerade innere Handlungen in den Blick nimmt, die letztlich in einem gestörten Gottesverhältnis fundiert sind. Wer habgierig, träge und wollüstig ist, der ist mit sich nicht im Reinen und versucht, eine innere Leere – die durch Gottesferne bedingt ist – zu füllen. Doch sind die Todsünden so verfasst, dass sie niemals zu einem Zustand führen, in welchem der Akteur befriedigt ist und Ruhe findet. Wer habgierig ist, will immer mehr haben und begibt sich in einen fatalen Teufelskreis. Allen Sieben Todsünden gemein ist damit eine innere Struktur, die Prozess- und Eskalationscharakter besitzt. Die drei theologischen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung dagegen können diese Eskalationstendenzen außer Kraft setzen.

Während Platon Tugenden wie Gerechtigkeit als Ideen bezeichnet, die absolut von uns existieren und die nur durch Verdunkelung ihrer Erkenntnis (und ihres Seins) zu Lastern führen, beschreitet Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik einen anderen Weg. Für ihn besteht die Tugend (areté; das „Gut-Sein“) im Rechten Maß bzw. der Mitte (mesótes) in Bezug auf uns als Individuen: „Die Tugend ist also eine Art von Mitte (mesotes), da sie auf das Mittlere (méson) zielt.“ (1106b) Die Gutheit des Charakters (areté ethiké) „hat mit Affekten und Handlungen zu tun, und in diesen gibt es Übermaß, Mangel und das Mittlere.“ Wir gelangen also nach Aristoteles nur durch Ausmittelung der Extreme der Laster zur Tugend, indem wir unsere Vernunft (lógos) dazu gebrauchen. Dementsprechend bestimmt Aristoteles die Tugend der Tapferkeit (andréia) als Mitte zwischen Furcht (phóbos) und Mut (tharré).