Datenschutz und Digitalität

Die Philosophie, verstanden als „Liebe zur Weisheit“, lässt sich mit Blick auf die Digitalisierung so verstehen, dass sie danach strebt, die Prinzipien, also den tieferen Grund der Digitalisierung und ihre ethische Bedeutung zu analysieren. Nicht so sehr interessiert dabei der technische Aspekt der Umwandlung von analogen zu digitalen Informationen (damit befassen sich die Informatiker), sondern die Frage, wie die Digitalisierung lebensweltlich zu bewerten ist. Dennoch müssen wir uns, wenn wir die Digitalisierung philosophisch bestimmen wollen, zunächst der Differenz von analogen und digitalen Informationen widmen. Anhand des Unterschieds von analogen und digitalen Informationen und Strukturen können wir dann auch genauer die philosophische und ethische Bedeutung der Digitalisierung erfassen. Wie das Wort „analog“ („entsprechend“, „nachgebildet“, „derselben Logik folgend“) bereits anzeigt, sind analoge Informationen mit ihrer Quelle immer noch verwandt. Wenn wir etwa ein Live-Konzert analog aufzeichnen, so werden die Schallwellen mechanisch und physisch auf die Schallplatte übertragen. Wenn wir eine Schallplatte nur genügend vergrößern, dann können wir die eingeritzten Schallwellen sehen. Diese werden von einer Diamantnadel dann mechanisch wieder abgenommen und auf eine Schwingungsmembran übertragen, so dass die eingeritzten Schallwellen hörbar werden.

Anders verhält es sich bei dem Prozess der Digitalisierung. Hier herrscht kein analoges Verhältnis mehr zwischen Eingangsinformation und Ausgangsinformation vor. Die akustischen Schwingungen werden nicht mechanisch auf eine Platte geritzt, sondern in eine binäre Abfolge von Nullen und Einsen zerlegt bzw. enkodiert. Diese Nullen und Einsen haben nichts mehr direkt mit dem ursprünglichen Schallereignis zu tun. Vielmehr handelt es sich dabei um eine Abstraktion vom ursprünglichen Gehalt. Diese Abstraktion hat verschiedene Vorteile. Denn die Zerlegung in Nullen und Einsen lässt ein kontinuierliches Phänomen, wie es Schallereignisse sind, in diskreten Werten darstellen. Alle Musik-CDs derselben Aufnahme erhalten quantitativ exakt dieselben Daten, sind also informationslogisch miteinander identisch, während dies für die Informationen von Schallplatten derselben Aufnahme genau genommen nicht gilt. Die Informationen auf Schallplatten hängen immer noch mit ihrem Medium zusammen – der physischen Beschaffenheit Vinylplatte, wie z.B. Dicke, Materialzusammensetzung, usw. Die Informationen auf einer CD – die Nullen und Einsen – sind hingegen unabhängig von ihrem Medium. Darin zeigt sich eine gewisse Flexibilität der digitalen Information. Denn wir können diese beliebig oft auf identische Weise auf andere Systeme übertragen – etwa von der CD auf die Festplatte und von dort auf das Smartphone. Analoge Informationen hingegen verlieren bei der Übertragung auf andere analoge Medien an Qualität und werden verfälscht. Wir werden also durch die Digitalisierung unabhängig von physischen und mechanischen Faktoren. Der Oxforder Internet-Ethiker Luciano Floridi hat diese Unabhängigkeit auch als „Reibungslosigkeit“ bezeichnet. Digitale Informationen nutzen sich nicht ab, wie eine Schallplatte durch den mechanischen Tonabnehmer. Diese Flexibilität, Reibungslosigkeit und Objektivität der digitalen Informationen erlaubt es uns, sie in ganz verschiedenen Kontexte einzusetzen und mit unserer Lebenswelt zu verbinden. Wir können hier von einer Datenidentität und Datenobjektivität sprechen.

Der Prozess der Digitalisierung kann in ganz verschiedenen Bereichen erfolgen, etwa dem „papierfreien Büro“, einer digitalen Kartei wie einem digitalen Telefonbuch usw. Entscheidend ist dabei nun, dass aus den quantitativen Eigenschaften der Digitalisierung auch qualitative Eigenschaften hervorgehen. Wenn wir einmal die analogen Daten digitalisiert haben, so können wir auf dieser Basis ganz neue Prozesse realisieren und neue Formen von Datenauswertung vornehmen. Zu denken ist etwa an die Integration von künstlicher Intelligenz, aber auch die Vernetzung im Internet und die Automatisierung. All dies ist aufgrund ihrer physischen Medienabhängigkeit und Reibung bei analogen Informationen nicht der Fall. Die Digitalisierung lässt sich insofern als eine Methode verstehen, bisherige analoge Prozesse zu flexibilisieren und zu dynamisieren. Insofern handelt es sich bei der Digitalisierung häufig auch um kreative Prozesse, die ganz neue Realisierungsweisen von herkömmlichen analogen Praktiken ermöglichen. Diese neuen Praktiken sind jedoch nicht als solche schon ethisch begrüßenswert, sondern können auch zahlreiche Probleme mit sich führen, auf die noch im Einzelnen näher eingegangen werden muss.

Aufgrund der digitalen Datenidentität und Datenobjektivität lassen sich Informationen über andere Personen viel leichter (i) erfassen, (ii) speichern und (iii) verarbeiten bzw. auswerten und vernetzen Wir können ganz verschiedene Phänomene über andere Personen digital erfassen, etwa ihre Suchanfragen über Google, aber auch sogenannte Metadaten wie den Zeitpunkt der Suchanfrage. Mit Hilfe von Algorithmen und künstlicher Intelligenz können wir dann aus diesen heterogenen Informationen interessante Muster erstellen, die uns auf andere Eigenschaften der jeweiligen Person schließen lassen.

 

Die seit dem Jahr 2018 gültige „Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO)“ der Europäischen Union hat angesichts der umgreifenden Digitalisierung verschiedene Artikel formuliert. Ganz allgemein gilt: „Die Verarbeitung personenbezogener Daten sollte im Dienste der Menschheit stehen.“ Artikel 9 betrifft die „Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten“. Er verbietet „[d]ie Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie die Verarbeitung von genetischen Daten, biometrischen Daten zur eindeutigen Identifizierung einer natürlichen Person, Gesundheitsdaten oder Daten zum Sexualleben oder der sexuellen Orientierung einer natürlichen Person.“ Hier stellt sich nun die Frage, aus welchen moralischen Gründen derartige personenbezogenen Daten nicht weiter verarbeitet bzw. erhoben werden sollten. Der Grund liegt in der Achtung der Würde der individuellen Person. Denn wenn wir diese intimen Informationen über sie besitzen, können wir sie wie ein bloßes Objekt manipulieren und von außen steuern. Artikel 17 postuliert ein „Recht auf Vergessenwerden“ bzw. ein „Recht auf Löschung“ dieser Daten. Hier stellt sich die Frage, inwiefern es in Zeiten der Digitalisierung noch ein solches Recht geben kann. Artikel 22 behandelt „Automatisierte Entscheidungen im Einzelfall einschließlich Profiling“: „Die betroffene Person hat das Recht, nicht einer ausschließlich auf einer automatisierten Verarbeitung — einschließlich Profiling — beruhenden Entscheidung unterworfen zu werden, die ihr gegenüber rechtliche Wirkung entfaltet oder sie in ähnlicher Weise erheblich beeinträchtigt.“ Worin besteht die moralische Problematik, wenn wir und unsere Daten automatisch durch KI ausgewertet werden? Der Grund besteht darin, dass wir durch automatisierte Entscheidungsverfahren zu bloßen Sachen verdinglicht werden. Unsere individuelle Würde und Freiheit wird durch automatisierte Prozesse verletzt, weil wir nicht mehr in einen Austausch bzw. Dialog mit dem verarbeitenden System treten können, und über uns von Maschinen bzw. Algorithmen verfügt wird. Damit wird die Problematik eines totalitären Verwaltungssystems durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz noch weiter verschärft.