Vorlesungsskript „Philosophische Anthropologie“

1. Zum Problem der philosophischen Anthropologie
Die philosophische Anthropologie betrachtet das Verhältnis von Mensch und Tier sowie neuerdings auch das Verhältnis von Mensch und Maschine. Bezüglich des Verhältnisses von Mensch und Tier unterscheidet die Forschung zwei Hauptpositionen: 1. Gradualismus: Die These, dass es nur einen graduellen Unterschied zwischen Mensch und Tier gibt. Der Mensch ist lediglich die jüngste evolutionäre Entwicklung und steht in einem Kontinuum zum Tier. Es gibt keine Kluft zwischen beiden; der Mensch ist selbst ein Tier – vielleicht vernünftigeres, vielleicht auch nicht. Diese Position wird in der analytischen Debatte oft als Animalismus bezeichnet. 2. Differentialismus: Es gibt einen qualitativen Unterschied zwischen Mensch und Tier. Dieser Unterschied kann darin bestehen, dass der Mensch zum Tier etwas hinzu addiert, etwa „Vernunft“ oder „Geist“, im Sinne einer höheren Seelenstufe. Oder aber der Unterschied besteht darin, dass das gesamte Leben des Menschen qualitativ anders strukturiert ist als dasjenige des Tieres, was ein nicht-additives Verständnis des Differentialismus ist.
Menschsein ist sowohl eine deskriptive als auch eine normative Eigenschaft. Deskriptiv bezieht sich der Begriff auf eine biologische Klassifikation wie Homo Sapiens Sapiens und empirische Merkmale. Normativ transportiert der Menschen-Begriff moralische Ideale als eine Forderung, an dem sich jeder Mensch orientieren sollte – man spricht hier oft auch von „Menschlichkeit“.
Allerdings die essentialistische Rede vom „Wesen des Menschen“ seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts problematisch geworden, da Wesensaussagen oft suggerieren, dass ein unveränderliches Konstrukt existiert. Auch werden traditionelle anthropologische Fragen in der analytischen Debatte oft unter dem Begriff der Person und der personalen Identität verhandelt.

2. Ein Blick über den Tellerrand: Hinduistische und buddhistische Anthropologie
Anthropologie wurde und wird nicht nur in Europa oder der „westlichen Welt“ betrieben, sondern es gibt auch philosophisch zentrale außereuropäische Anthropologien, wie die Anthropologie des Hinduismus und Buddhismus. Im Hinduismus wird der Atman (vgl. das deutsche Wort „Atem“) als ewige Seele oder das Selbst und das Brahman als absolute Realität eingeführt, mit dem Gedanken des Sich-selbst-Erkennens der Seele im All, ausgedrückt im Spruch „Tat Tvam Asi“ („Das bist du“). Im Buddhismus hingegen steht das Konzept des Anatman (der Nicht-Atman) im Vordergrund, was die Nicht-Selbstigkeit, das Nicht-Ich oder die Unpersönlichkeit bedeutet. Der Mensch hat nach dem Buddhismus kein unveränderliches und unabhängiges Selbst, keine Substanz. Dies wird auch als „No Self Theory“ bezeichnet. Es ergeben sich hier systematische Bezüge zu verwandten Theorien in der europäischen Philosophie, etwa bei David Hume. Das Ziel im Buddhismus ist die Befreiung vom Selbst und dem Leiden, das Nirvana.

3. Antike Anthropologie: Platon und Aristoteles
Nach Platon besteht der Mensch aus zwei trennbaren Entitäten oder Substanzen: dem Körper (materiell, vergänglich, Quelle von Leidenschaften und Irrtümern) und der Seele (immateriell, unsterblich, vernunftbegabt, Trägerin der Wahrheit). Dies wird als Dualismus bezeichnet. Die Seele ist bei Platon nicht homogen, sondern hat verschiedene Seelenteile: den vernünftigen, den muthaften und den triebhaften Seelenteil. Diese Seelenteile werden auch Körperteilen zugeordnet: Vernunft dem Kopf, Mut der Brust, Begierde dem Bauch.

Aristoteles, ein weiterer Hauptvertreter der antiken Anthropologie, vertritt eine andere Theorie als Platon bezüglich Körper und Seele. Er vertritt die These, dass Körper und Seele nicht strikt voneinander zu trennen sind, sondern eine Einheit eingehen. Dies wird als Hylemorphismus bezeichnet, wobei der Körper die Materie (hyle) und die Seele die Form (morphé) ist. Die Seele ist die Form des Körpers, die ihn belebt und strukturiert. Der Mensch ist ein lebendiges Ganzes, ein Synholon. Aristoteles unterscheidet ebenfalls Seelenteile, die aber eher als gestufte Seelenstufen zu verstehen sind, wobei die jeweils folgende die jeweils vorhergehenden einschließt. Es gibt die vegetative Seele (Pflanzen, Tiere, Menschen), die animalische Seele (Tiere, Menschen) und die vernünftige Seele (nur Menschen). Jede höhere Stufe setzt auf einer niedrigeren Stufe auf.

4. Mittelalterliche Anthropologie: Boethius und Thomas von Aquin
Bei Boethius, einem frühmittelalterlichen Denker, steht die Frage nach dem Wesen oder der Identität des Menschen als Substanz im Vordergrund. Seine Anthropologie ist in einen theologischen Hintergrund eingebettet. Boethius‘ These lautet, dass alle Menschen Personen sind, es aber auch noch Personen gibt, die keine Menschen sind. Er definiert die Person als einer verständigen Natur unteilbare (individua) Substanz. Nach Boethius sind Menschen körperliche, lebende, sinnbegabte und vernunftbegabte Substanzen. Unkörperliche Substanzen, die vernunftbegabt sind, wie Engel, sind ebenfalls Personen.

Thomas von Aquin, der später lebte, ist stark in dieser mittelalterlichen Tradition verankert und hat ebenfalls einen theologischen Hintergrund. Im Unterschied zu Boethius betont er, dass die Substantialität beim Menschen nicht so stark hervorgehoben werden darf, da der Mensch nicht nur ein Gegenstand oder Ding ist. Der Mensch ist eine besondere Substanz, die auf sich selbst reflektieren kann und Herrschaft über ihr Tun hat. Die Person ist eine freie, selbstbestimmte Substanz. Sie genießt als Substanz einen ontologischen Sonderstatus und ist eine Form autonomer Existenz, die aus der Ordnung dinghafter Substanzen herausfällt. Thomas von Aquin ist hier ein Stichwortgeber für die neuzeitliche und moderne Anthropologie, in der Menschen als Personen nicht als bloße Substanzen, sondern als fluidere Existenzen aufgefasst werden.

5. Philosophie der Neuzeit: John Locke, David Hume und Immanuel Kant
Der empiristische englische Philosoph John Locke unterscheidet explizit den Personenbegriff vom Menschenbegriff. Eine Person ist für ihn „ein denkendes verständiges Wesen das Vernunft und Überlegung besitzt und sich selbst all sich selbst betrachten kann“. Die Identität der Person wird durch ihr Bewusstsein definiert; solange sich das Bewusstsein „zurückreicht“, existiert die Person. Ein Beispiel ist die Seele eines Fürsten, die in den Körper eines Schusters eintritt – der Schuster wäre dann dieselbe Person wie der Fürst und für dessen Taten verantwortlich. Die Identität des Menschen definiert Locke demgegenüber über die Identität des Organismus oder Lebewesens. Ein Problem von Lockes Personendefinition ist, dass man sich nicht an alles erinnern kann (z.B. Träume, frühe Kindheit), was bedeuten würde, dass man zu diesen Zeiten keine Person, aber ein Mensch war.

Der schottische Philosoph David Hume argumentiert noch radikaler, insbesondere gegen den Substanzbegriff und die Seele. Er beschreibt den Geist als eine Art Theater von wechselnden Wahrnehmungen (Perzeptionen). Seiner Meinung nach gibt es in diesem „Theater“ weder Einfachheit noch Identität über verschiedene Zeitpunkte hinweg. Da das Bewusstsein nur aus sich wandelnden Wahrnehmungen besteht und es keinen festen „Schauplatz“ oder kein „Material“ dafür gibt (keine Seelensubstanz), haben wir selbst keine Identität. Dies wird als Kritik an Lockes Ansicht gesehen und bringt Hume in die Nähe des Buddhismus.

Immanuel Kant zählt die Frage „Was ist der Mensch?“ zur zentralen philosophische Frage, auf die sich Fragen nach dem Erkennen, Handeln und Hoffen beziehen. Kant unterscheidet den Menschen streng vom Tier und nimmt eine moderne Theorie vorweg: der Mensch als ein Mängelwesen. Ein Tier ist nach Kant durch seinen Instinkt bereits „alles“, es hat alles Nötige zum Überleben (Kant spricht davon, dass eine fremde Vernunft es beherrscht), während dem Mensch der Instinkt fehlt und er seine eigene Vernunft gebrauchen muss. Der Mensch kommt „roh auf die Welt“ und benötigt andere Menschen, die ihn sozialisieren. Die Kultur ist notwendig, um die natürlichen Mängel des Menschen auszugleichen.

6. Arnold Gehlen: Der Mensch als Mängelwesen
Wir wollen uns heute näher mit den Differentialisten befassen. Innerhalb dieser Position gibt es verschiedene Bestimmungen des Menschen: Der Mensch als Mängelwesen – das ist die Position von Arnold Gehlen. Grundsätzlich wird von Gehlen die Vorstellung kritisiert, der Mensch sei einfach ein „Tier plus X“, also ein Tier, dem noch etwas Zusätzliches hinzugefügt wurde, etwa ein Geist. Der Grundgedanke des Menschen als Mängelwesens besteht darin: Der Mensch ist von Geburt an nicht an seine Natur, an die Umwelt angepasst. Darin unterscheidet er sich vom Tier. Das ist nicht nur ein gradueller Unterschied, sondern er ist qualitativ weniger angepasst. Dadurch muss der Mangel kompensiert werden. Der Schweizer Biologe und Soziologe Adolf Portmann hat diesen Gedanken des Mängelwesens schon angedacht. Er verstand den Menschen als „physiologische Frühgeburt“, insofern der Mensch eigentlich ein Jahr zu früh auf die Welt kommt. Dieses „extrauterine Frühjahr“ muss von der sozialen Umgebung kompensiert werden – von den Eltern, den Verwandten, Institutionen, der menschlichen Umwelt. Diesen Gedanken hatte bereits Kant formuliert. Die natürliche Evolution wird also in die soziale Evolution, in die Reifung ausgelagert. Biologie und Soziologie sind bei der menschlichen Entwicklung aufs Engste verschränkt. Diesen Gedanken greift Arnold Gehlen auf, wenn er vom Mensch als Mängelwesen spricht. Das tut er in seiner Schrift „Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt“ von 1940. Schauen wir auf den Vergleich Mensch versus Tier bei der Geburt, was eine differentialistische Ansicht ist:
Der Mensch ist unreif, hilflos. Viele Tiere sind weiter entwickelt, schon bei der Geburt besser angepasst, haben Körperkontrolle. Fohlen können nach einer Stunde bereits stehen, ein Kleinkind erst nach einigen Monaten. Die Sinnesfunktionen menschlicher Babys sind noch nicht entwickelt, der Mensch ist deswegen ein „Nesthocker“. „Nestflüchter“ hingegen können häufig schon kurz nach der Geburt gut sehen und sich in ihrer Umgebung orientieren. Das menschliche Kind ist angewiesen auf seine Eltern, seine Familie, die menschliche Umwelt.
Gehlen kritisiert in diesem Kontext auch die aristotelische Anthropologie. Nach dieser Auffassung gibt es Seelenstufen: vegetative, animalische und vernünftige Seele, wobei die vernünftige Seele „on top“ nur der Mensch hat. Gehlen kritisiert diese Vorstellung einer Stufenfolge. Es ist ihm zufolge ein Schema, das der menschlichen Existenz nicht gerecht wird und die eigentliche Natur des Menschen verfehlt. Das, was den Menschen gegenüber dem Tier auszeichnet, ist keine zusätzliche Eigenschaft, sondern ein durchlaufendes Strukturgesetz, das alle seine „Seelenstufen“ durchzieht. Es ist also nicht die Stufung, sondern der Stil, die Verlaufsform der Bewegungen, Handlungen, die Lebensform, die alles am Menschen betrifft. Diese Struktur beinhaltet, dass der Mensch ein handelndes Wesen ist. Er muss sich entwerfen, ist nicht festgestellt an die äußere Natur durch Instinkte. Er ist sich selbst Aufgabe. Er muss sich selbst seine Gesetze geben, weil die Gesetze ihm nicht von Natur aus gegeben sind (als „fremde Vernunft“). Deswegen besteht seine Existenz gerade darin: in diesem Selbstgesetz-Geben, in der Selbststellungnahme nach außen. Dieses Stellungnehmen bedeutet zu handeln. Sen Unfertigsein, sein Noch-im-Entwurf-Begriffen-Sein betrifft seine gesamte Existenz und nicht nur den Anfang seiner Geburt. Der Mensch ist also durch Mängel bestimmt. Es fehlt ein Haarkleid zum Witterungsschutz. Natürliche Angriffsorgane, wie Fingernägel und Zähne, sind verkümmert. Dieser Mangel wird dann aber als eine Chance verstanden. Der Mensch muss diese Mängel umarbeiten zu neuen Möglichkeiten. Arbeit ist hier ein wichtiger Begriff: Der Mensch muss sich entlasten. Er muss künstliche Dinge erzeugen, die seine Mängel kompensieren. In dieser Künstlichkeit besteht eben auch die Sonderstellung des Menschen. Künstlichkeit kann nur durch Handeln erzeugt werden. Dennoch ist nach Gehlen der Mensch als Mängelwesen keine Substanz im Sinne eines unveränderlichen Wesens. Es ist vielmehr eine Relation, insofern er den Mangel kompensiert. Der Mensch ist immer Bewegung der Mangel-Kompensation als Dynamik, und nicht als festgesetztes Wesen. Diese Kompensationsleistung erfolgt im Sinne der Kultur. Gehlen spricht von einer „zweiten Natur“ im Vergleich zur biologischen „ersten Natur“. Diese kulturelle Natur wird durch menschliches Handeln erzeugt, um ihn zu entlasten.
Zusammenfassend: Die natürlichen Mängel, die Unspezifiziertheit, zwingen den Menschen, sich eine zweite Natur zu schaffen, zu handeln. Das Handeln ist die Entlastung vom natürlichen Mangel. Der Mensch muss sich die Welt verfügbar machen. Er besitzt ein ganz neues Umweltverhältnis, das als „Weltoffenheit“ bezeichnet wird.

7. Helmuth Plessner: Der Mensch als exzentrische Positionalität
Nach Helmuth Plessner ist das Tier durch eine unmittelbare Gebundenheit an die Situation gekennzeichnet: Es geht vollständig im Hier und Jetzt auf, ohne dass ihm diese situative Eingebundenheit bewusst wird oder gegenständlich erscheint. Dem gegenüber steht der Mensch in einer grundsätzlich anderen Weise zur Welt, nämlich in einer „exzentrischen Positionalität“. Diese beschreibt eine doppelte Struktur: Der Mensch ist zwar an ein Zentrum – seinen Körper – gebunden, vermag aber zugleich auf dieses Zentrum reflexiv Bezug zu nehmen. Diese Fähigkeit zur Selbstreflexion führt zu einer Stellung des Menschen, die nicht nur innerhalb, sondern auch gegenüber der Welt besteht, in Form einer „frontalen Gestelltheit“ zur Umwelt. Aus dieser Exzentrizität ergibt sich eine dreifache Perspektive des menschlichen Daseins: Der Mensch ist erstens lebendiger Körper, verstanden als physische Grenzlinie zum Außen; zweitens innerpsychisches Subjekt, also Träger eines seelischen Innenlebens; und drittens transzendierendes Ich, das als standpunktgebende Instanz sowohl Außen- als auch Innenperspektive zugleich integrieren kann. Als solches Subjekt ist der Mensch Ursprung seiner Erfahrungen, Wahrnehmungen, Handlungen und Initiativen. Indem er seine leibliche Existenz von außen zu reflektieren vermag, ist seine Existenz nicht einfach in einem festen Sinn verankert, sondern in ein Offenheitsverhältnis gestellt – „auf Nichts gestellt“. Diese dreifache Perspektivität lässt sich auch als Gliederung in drei Sphären verstehen: Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt. Die Außenwelt umfasst die objektive Wirklichkeit, auf die sich der Körper richtet; die Innenwelt bezeichnet das subjektive Erleben, das sich auf sich selbst bezieht; die Mitwelt wiederum entsteht nicht allein durch körperliche Präsenz, sondern vor allem durch die aktiven Handlungen und Initiativen der Person im sozialen Raum. Entsprechend ergibt sich eine dreifache ontologische Struktur: eine physische, eine psychische und eine geistige Sphäre. Plessner unterscheidet zudem präzise zwischen „Leib“ und „Körper“. Während der Körper als materieller Gegenstand zur physischen Sphäre gehört, ist der Leib stets subjektiv erfahren und beseelt – ohne dabei etwas vom Körper Verschiedenes zu sein. Vielmehr handelt es sich um zwei Perspektiven auf dieselbe leibliche Existenz. Diese Exzentrizität des Menschen erlaubt es ihm, sich zugleich als allgemeines und als individuelles Wesen zu begreifen: als allgemeines Wesen, insofern er Teil einer objektiven Welt ist; als individuelles, insofern er sich auf sein Innenleben beziehen kann. In der Mitwelt schließlich tritt das personale Ich in verschiedenen grammatischen und sozialen Perspektiven auf – als erste, zweite oder dritte Person –, was jedoch nicht bloß sprachlich, sondern existenziell fundiert ist. Plessner formuliert vier „anthropologische Grundgesetze“: (1) Gesetz der natürlichen Künstlichkeit: Dies knüpft an Gehlen an. Der Mensch ist auf Künstlichkeit angewiesen und muss sich seine Kultur durch Institutionen als zweite Natur schaffen, um lebensfähig zu sein. (2) Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit: Der Mensch erlebt sich selbst und die Welt nicht direkt, sondern ist immer auch außer sich. Dies ist der Begriff der Existenz, des Außer-sich-Stehens. Es besteht ein Spannungsverhältnis zwischen direktem Erleben und reflektierendem Denken. (3) Gesetz der exzentrischen Positionalität: Der Mensch hat eine besondere Form des Selbstverhältnisses, ist sich über sich immer bewusst und hat eine Außenperspektive, die als Mitwelt beschrieben wird. Er hat einen Körper, ist ein Körper, hat einen Körper und kommuniziert mittels der Leiblichkeit in die Mitwelt. (4) Gesetz der Utopie: Da der Mensch exzentrisch ist und immer über sich hinausgeht, ist er auf utopische Szenarien ausgerichtet, die eine mögliche (bessere) Zukunft betreffen.

8. Max Scheler: Der Mensch als Geist

In seiner Abhandlung über „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ (1928) unterscheidet Max Scheler einen natursystematischen Begriff des Menschen (Mensch als evolutionäres Wesen) (vgl. Gradualismus) und einen, der das Wesen des Menschen im Unterschied zu seiner evolutionären Entwicklung bestimmt (der Wesensbegriff, vgl. Differentialismus). Wie Plessner so unterscheidet auch Scheler verschiedene Stufen psychischer Kräfte, die jedoch die aristotelische Dreiteilung der Seele modifizieren. Dazu gehören (1) der Gefühlstrang (vegetative Seele/Pflanze), (2) der Instinkt (Tier, Spezialisierung an eine Nische), (3) das assoziative Gedächtnis (z.B. Pawlowscher Reflex) und (4) die organisch gebundene praktische Intelligenz (vgl. Wolfgang Köhlers Schimpansenexperimente), die instrumentell-rationale Aktionen ermöglicht. Angesichts dieser tierischen Fähigkeiten wirft Scheler die Frage auf, ob noch ein Wesensunterschied zum Menschen besteht. Scheler lehnt die Auffassung ab, dass es sich lediglich um einen überquantitativen oder graduellen Unterschied handelt. Für Scheler liegt die Sonderstellung des Menschen nicht in der organisch gebundenen praktischen Intelligenz, sondern in einem ganz eigenen Vermögen, das er Geist nennt. Während die von Scheler aufgezeigten vier „Wesensstufen“ der Vitalsphäre zum Kompetenzbereich der Psychologie und Biologie zählen, so zeichnet sich für ihn der Bereich des Geistes durch seine „existentielle Entbundenheit vom Organischen“ aus. Der Bereich des Geistes ist demnach ausdrücklich nicht Gegenstand der Naturwissenschaften wie der Biologie. Scheler hat bislang allerdings nur negativ dargelegt, was Geist nicht ist. Was aber ist Geist im positiven Sinne? Scheler bestimmt ein geistiges Wesen nicht als naturgebunden, sondern als reflexiv naturentbunden. Es kann also von ihr zurücktreten und sie auf eine Weise betrachten, die nicht unmittelbar im natürlichen, geschlossenen Mittel-Zweck-Zusammenhang besteht. Indem ein geistiges Wesen so von seiner es umgreifenden Umwelt durch die Hemmung seiner natürlichen Bedürfnisse zurücktreten und aus dem Mittel-Zweck-Kreislauf ausbrechen kann, wird es zugleich frei für die Welt als ganzes: Es wird „weltoffen“. Damit hat Scheler allerdings erst formal angegeben, worin das ‚Wesen‘ des Geistes besteht. Das Konkrete des Geistes besteht nach Scheler in seiner spezifischen Operationsweise und Tätigkeit, im „Akt der Ideierung“. Scheler verdeutlicht dies am Beispiel des Schmerzes. Die positiven Naturwissenschaften können den Schmerz erklären, indem sie ihn auf natürliche Ursachen zurückführen. Durch eine geistige Betrachtung des Schmerzes wird jedoch gerade nicht nach einer dahinterliegenden natürlichen Ursache gefragt (also etwa das Feuern von Neuronen) sondern vielmehr die Frage nach seinem Wesen gestellt. Die Reflexionsbewegung ist also dabei nicht die einer Reduktion, sondern die einer Transzendenz des konkreten Schmerzes hin zu seiner holistischen Verortung in der Welt als ganzen. Die ‚geistige‘ Frage lautet also nicht: „Was ist die Ursache von Schmerz allgemein?“, sondern zielt auf Erstes und Letztes: „Warum gibt es überhaupt Schmerz in der Welt?“ Indem eine solche radikale Frage gestellt wird, die an die allerersten Wurzeln des Schmerzes an sich rührt, und nicht mehr den Schmerz als natural erfahrbares und wirksames Phänomen betrifft, kann Scheler sagen, dass im Ideieren die „Aufhebung des Wirklichkeitscharakters der Dinge, der Welt“ besteht. Scheler bezeichnet diese geistige Tätigkeit auch als „asketische[n] Akt der Entwirklichung“, indem dadurch der Wirklichkeit ein „kräftiges ‚Nein‘“ ‚entgegengeschleudert‘ wird. Durch diese Freiheit von der Natur bestimmt Scheler den Menschen als „ewige[n] Protestant gegen alle bloße Wirklichkeit“, als „Neinsagenkönner“ und „Asket des Lebens“, während das Tier „immer ‚Ja‘ zum Wirklichen sagt“. Der geistige Akt der Ideierung darf also nicht mit dem Vorgang der Abstraktion gleichgesetzt werden. Die Abstraktion verfährt empirisch und reduktionistisch, indem sie zu einem bloßen Konstrukt führt, welches hinreichend allgemein ist. Die Ideierung hingegen verfährt apriorisch, indem sie zu einer Wesenserkenntnis gelangt, die allgemeiner und zugleich konkreter als das empirische Ausgangsobjekt ist. Nun ist im Geistigen das Verhältnis zur eigenen Natur jedoch nicht das einer Unterdrückung, sondern das einer Umlenkung oder Transformation. Scheler beschreibt diese Ausnutzung der naturalen Triebenergie als Tätigkeit der Sublimierung. Dadurch ist der Geist jedoch gerade wieder an die Natur des Menschen gebunden: Er selbst besitzt nach Scheler „keinerlei ursprüngliche Eigenenergie“. Scheler kritisiert damit die traditionellen Theorien, die dem Geist so etwas wie eine „Selbstmacht“ zugesprochen hatten: „Geist und Wollen des Menschen kann […] nie mehr bedeuten als «Leitung» und «Lenkung»“ Der Geist ist also keine weitere psychische Kraftstufe, sondern erhebt den Menschen über das Leben. Er ist ein Aktzentrum, das Akte wie die Ideierung realisiert. Ideierung ist die Fähigkeit, Dinge von ihrer prinzipiellen Seite zu betrachten und Wesensfragen zu stellen (z.B. „Was ist der Grund der Welt, dass so etwas wie Schmerz möglich ist?“). Die Akte des Geistes sind a priori und unabhängig von der Erfahrung. Als solches Vermögen ist der Geist gegenstandsunfähig; er ist reine, pure Aktualität und existiert nur in seinem Akt. Nach Scheler ist der Geist nichts Energetisches oder ontologisch Zusätzliches, wie eine res cogitans. Er leitet lediglich die Triebe und die ihnen zugrunde liegenden tierischen Vermögen und Energien um, was als eine Form der Sublimierung verstanden werden kann. Ein weiteres Merkmal des menschlichen Geistes ist die Fähigkeit, „Nein“ zur Wirklichkeit zu sagen und Negativität zu realisieren, indem sich der Mensch zu sich selbst und zur Welt verhält, im Gegensatz zum Tier, das stets an seine Nische angepasst ist. Scheler wählt also hinsichtlich des Verhältnisses von Geist und Leben einen dritten Weg: Weder ist der Geist dem Leben ganz und gar entgegengesetzt und selbstmächtig, noch ist er eine bloße Fortführung des Lebens. Vielmehr ist er auf das Leben angewiesen, um durch Sublimierung die Lebensenergie aufzunehmen und umzulenken: „Geist und Leben sind aufeinander hingeordnet – es ist ein Grundirrtum, sie in eine ursprüngliche Feindschaft, in einen ursprünglichen Kampfzustand zu bringen.“ Scheler bestimmt das Leben allgemein als „unräumliches Sein, wohl aber zeitliches Sein“, also im Sinne eines Lebenstriebs, der nicht fest verortet ist, sondern sich über die Zeit hinweg diffus erstreckt. Die höchste Tätigkeit des Ideierens des Geistes besteht in der Infragestellung der Welt an sich: Der Geist „entdeckt in diesem Blicke gleichsam die Möglichkeit des «absoluten Nichts» – und dies treibt ihn weiter zu der Frage: «Warum ist überhaupt eine Welt, warum und wieso bin Ich überhaupt»?“ Indem der Mensch qua Geist die Welt als Ganzes in Frage stellen kann, vermag er zugleich die „Idee eines überweltlichen unendlichen und absoluten Seins [zu] erfassen“.

9. Eric T. Olson: Der Mensch als Tier (Animalismus)

Vertreter des Animalismus, wie etwa Eric T. Olson, argumentieren, dass wir wesentlich (essentially) (menschliche) Tiere sind, und nur unwesentlich bzw. akzidentell (accidentally) Personen. Damit ist gemeint, dass unsere Identitäts- bzw. Persistenzbedingungen diejenigen eines tierischen Organismus sind. Wir existieren nur so lange, wie dieser Organismus lebendig ist, und mit seinem Tod endet unsere Existenz. Daraus folgt, dass unsere Identitätsbedingungen nicht an das (faktische) Vorliegen mentaler Eigenschaften wie etwa Selbstbewusstsein gebunden sind (was etwa Locke behauptet hatte). Wir mögen zwar phasenweise personale Fähigkeiten an den Tag legen, doch insgesamt betrachtet – gerade auch mit Blick auf den Anfang und das Ende unseres Lebens – sind wir lebendige Organismen – nichts mehr, aber auch nichts weniger. Olson spricht hierbei vom „Biological Approach“, den er als die einzig konsistente Theorie unserer personalen Identität als Lebewesen ansieht. Als Paradigma der Lebensidentität darf nach Olson der (menschliche) Organismus gelten. Olson spricht dabei weniger von Personen (persons) als von „Leuten“ (people) oder gar nur von „uns“ (us). Psychologische Eigenschaften wie Selbstbewusstsein oder Willensbestimmungen sind für unsere numerische Identität demnach nicht entscheidend. Dennoch können (menschliche) Tiere bzw. Organismen Eigenschaften besitzen, die nicht genuin biologischer Natur sind. Olson führt hier das Beispiel an, dass wir als biologische Organismen sehr wohl Philosophinnen und Europäer sein können. Auch bestreitet Olson nicht, dass zwischen menschlichen Tieren und anderen Arten große Differenzen bezüglich mentaler und gar moralischer Eigenschaften bestehen können. Diese Eigenschaften sind jedoch ontologisch nicht so entscheidend, dass sie unsere Identitätsbedingungen festlegen. Um seine These des Animalismus zu plausibilisieren, führt Olson ein Gedankenexperiment durch. Nehmen wir an, wir fielen durch eine Verletzung unseres Gehirns in einen permanenten vegetativen Zustand (Olson spricht hier von einem „human vegetable“) und besäßen so kein Bewusstsein mehr. Nach (neo-)lockeanischen Positionen würde unsere Existenz, die immer personal ist, hiermit erlöschen. Nach Olson ist es aber nun so, dass nicht unsere Existenz dabei erlischt, insofern das menschliche Tier uns überlebt, sondern dass vielmehr wir die menschliche Person überleben. Unsere Identitätsbedingungen sind diejenigen eines menschlichen Tieres.

10. Lynne R. Baker: Der Mensch als Person (Konstitutionstheorie)

Mit ihrer Konstitutionsthese möchte Lynne R. Baker (1944-2017) gegen die Annahme des Animalismus argumentieren, demzufolge unsere Identitätsbedingungen essentiell denjenigen von anderen, auch niederen Organismen entsprechen: „[A]ccording to Animalism […], there is no ontological distinction between us and earthworms. By contrast, I think that metaphysics should tell us about what is fundamental to our being the kind of thing that we are (as opposed to earthworms), and about what is significant about us.“ Gegenüber Olsons Animalismus betont Baker die metaphysische Relevanz der praktischen Dimension für die Identität der Person. Bakers Theorie der Person gewinnt ihr Profil in scharfer Abgrenzung von Olsons Animalismus. Während nach dem Animalismus gilt, dass wir wesentlich (essentially) Tiere und nur kontingenterweise (contingently) Personen sind, gilt nach der Konstitutionstheorie das gerade Gegenteil: „I am a person essentially, and an animal contingently“. Bakers These besteht darin, dass unsere Identitätsbedingungen nicht diejenigen von Tieren, sondern von Personen sind. Doch soll diese Differenz keinen ontologischen Dualismus begründen. Baker legt die Identitätsrelation im Sinne ihrer Konstitutionsthese in verschiedenen Hinsichten aus. Wir sind nach Baker, obwohl wir im Grunde Personen sind, ebenso vollständig Tiere, d.h. wir stehen in einem evolutionären Zusammenhang mit dem Tierreich. Wir sind Tiere, insofern wir von menschlichen Tieren, d.h. dem lebendigen Organismus, konstituiert werden. Doch bestreitet Baker im Gegensatz zu Olson, dass sich dadurch unsere Identitätsbedingungen als Personen ebenso aus unserer biologischen Natur ergeben. Obwohl wir also Tiere sind, sind wir nicht identisch mit ihnen. Vielmehr argumentiert sie dafür, dass wir auch ohne unsere biologische Natur als Personen existieren könnten. Dazu entwickelt Baker Gedankenexperimente, die unser Überleben unter bestimmten Bedingungen betreffen, und die ihre Theorie erhärten sollen. Es ist nach Baker logisch widerspruchsfrei denkbar, und überdies naturwissenschaftlich nicht ausgeschlossen, dass niedrigere Hirnfunktionen, die etwa unseren Stoffwechsel betreffen, von einer künstlichen prothetischen Vorrichtung übernommen werden könnten. So ließe es sich denken, dass nach und nach verschiedene Teile und Organe unseres Körpers durch anorganische Teile ersetzt werden, und wir so am Ende nicht mehr aus Kohlenstoff bestehen, wie es alle terrestrischen Tiere tun. Nach Baker ist es möglich, dass eine Person das sie konstituierende menschliche Tier – also den lebendigen Organismus – überlebt, insofern dieser sukzessive durch künstliche Organe ersetzt wird. Selbst wenn das menschliche Tier dabei sterben würde, so würden wir – verstanden als identisch mit einer Person – dennoch weiter existieren.

11. Marya Schechtman: Der Mensch als Narrativ und Lebensform

Marya Schechtman grenzt sich wie Baker vom Animalismus ab. Sie betont, dass der animalistische Begriff des Lebens – als Organismus – nur eine Abstraktion jenes Lebens darstellt, welches Personen führen. Mit ihrem „Narrative Approach“ und ihrer „narrative self-constitution view“ hat sie deswegen eine Theorie personaler Identität als narrative Selbst- und Fremdkonzeption entworfen. Sie verweist darauf, dass die Form der Narration, und damit auch die narrative Lebensform der Person, die aus individuellen Ereignissen und Episoden besteht, immer in einem größeren, holistischen Kontext angesiedelt sind, der die Person umgreift. Damit geht einher, dass einzelne Momente des personalen Lebens nur im Kontext des gesamten Lebens verständlich sind, welches sich permanent weiterentwickelt. Zunächst führt sie einen hohen Grad an Kohärenz an. Dies bedeutet für Schechtman, dass eine Person in verschiedenen Graden der narrativen Selbstkonstitution vorliegen kann. Schechtmans „Person Life View“ kann als eine Erweiterung und Modifikation ihrer narrativen Selbstkonstitutionstheorie verstanden werden. Insbesondere gibt hier das Problem von marginal agents, also etwa Kleinkindern und Demenzpatienten, den entscheidenden Ausschlag, ihre narrative Selbstkonstitutionsthese um die Dimension der Interpersonalität und um einen bestimmteren Begriff des Lebens zu erweitern, den Schechtman als biographisches Lebensnarrativ („life narrative“) bezeichnet.