Während sich die philosophische Tradition von Thomas von Aquin bis Bouterweck vor allem mit dem Begriff der Virtualität befasste, rückt seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts der Begriff der „virtuellen Realität“ ins Zentrum des Interesses. In seinem Buch „The Metaphysics of Virtual Reality“ beschreibt Michael Heim im Jahr 1993 seine erste Erfahrung mit VR-Technologie. Er beschreibt seine Erfahrung mit diesem Medium als philosophische Verwirrung: „Instead of sitting before a screen with keyboard or mouse, I donned a helmet and glove and felt immersed in a computer- / generated environment. No longer outside the computer, I walked through the looking glass. My philosophical seismograph went crazy.“ (xif.) Die „ontologische Konfusion“, welche der Begriff virtueller Realität mit sich bringt, wird hier phänomenologisch erfahren. Man könnte hier nun einen Bezug zum Phänomen des Staunens, der Verwunderung oder der Aporie herstellen, die nach Platon der Anfang allen Philosophierens ist. Nur handelt es sich hier um eine medial induzierte Verwunderung. Heim spricht von einem medial bedingten „ontological shift“, der zu einer „full-fledged, aggressive, surrogate reality“ (xi) führt. Anders als es die Herausgeber des „Handbuchs Virtualität“ betonen, wird hier virtuelle Realität als etwas Bedrohliches und Gefährliches erfahren. Dies wird insofern verständlich, als jedes neue Medium – sei es der Buchdruck, der Film oder das Kino, zunächst für großes Verwirrung unter seinen Nutzern führte, bevor diese Medien Eingang in die Lebenswelt fanden und zu einem selbstverständlichen Teil des Alltags wurden. Heim spricht mit Blick auf die VR-Technologie von einer „Immersion“, also dem Eintauchen in eine simulierte Welt, und davon, dass diese Technologie eine „new form of human experience“ (vi) ermögliche. Heim sieht nun die Besonderheit des Mediums der VR-Technologie darin, dass wir epistemologisch einen anderen Bezug zu Informationen herstellen: „It is the first intellectual technology that permits the active use of the body in the search for knowledge.“ (vii) Unser Körper wird also selbst zum Medium virtueller Realität. In seinem im Jahr 1998 erschienenen Buch „Virtual Realism“ versteht Heim diese Position lebensweltlich als „an art form, a sensibility, and a way of living with new technology.” Er verteidigt Virtuelle Realität, verstanden als technologisches Phänomen, gegenüber der Vorstellung, diese sei „simply a nebulous idea“. Er betont ferner, dass virtuelle Realität “not synonymous with illusion or mirage or hallucination” sei.
Der US-amerikanische VR-Pionier Jaron Lanier bestimmt virtuelle Realität in seinem 2017 erschienenen Buch „The Dawn of the New Everything” als “one of the scientific, philosophical, and technological frontiers of our era” und als “a means for creating comprehensive illusions” (1). Der Technologie virtueller Realität kommt nach Lanier eine eminente anthropologische Bedeutung zu. Er versteht sie als “the farthest-reaching apparatus for researching what a human being is in the terms of cognition and perception. Never has a medium been so potent for beauty and so vulnerable to creepiness. Virtual reality will test us. It will amplify our character more than other media ever have. Virtual reality is all these things and more.” (1) Anders als Heim versteht Lanier virtuelle Realität als eine Form von Illusion und setzt sie als das Ideale dem Bereich des Realen entgegen. In virtueller Realität verschmelzen Technologie und Kunst zu einer neuen Ausdrucksform. Lanier versteht virtuelle Realität als ein neu zu erkundendes Gebiet, welches nur nicht physisch existiert: „A simulated new frontier that can evoke a grandiosity recalling the Age of Exploration or the Wild West.“ Die simulative Dimension virtueller Realität erlaubt es, uns auf eine neue Weise zu erfahren. Virtuelle Realität ist „[a] mirror image of a person’s sensory and motor organs, or if you like, an inversion of a person.”
In seinem Buch “Reality +”, welches im Jahr 2022 erschien, knüpft David Chalmers an Michael Heims Position des „virtual realism“ an. Wie dieser versteht Chalmers virtuelle Realität nicht als eine Illusion, sondern als eine Simulation. Chalmers vertritt insofern einen „simulation realism“: “If we’re in a simulation, the objects around us are real and not an illusion.” All unsere Kriterien für Realität – von denen er fünf anführt – sind seiner Auffassung nach durch seinen „simulation realism“ erfüllt. Allerdings ist diese Auffassung von Realität, die mit Simulation (wenn auch nicht mit Illusion) kompatibel ist, aus verschiedenen Gründen problematisch. Denn Virtualität muss gleichermaßen von Simulation, Illusion und Fiktion unterschieden werden. Simulationen modellieren Realitäten nur, während virtuelle Realitäten Realitäten eigenen Rechts sind und eine eigene Ontologie aufweisen. Fiktive Gegenstände benötigen keine Referenz auf ein reales Vorbild. Sie sind nicht eindeutig und durchgängig bestimmt. Sie sind Konstrukte der Fantasie (z.B. Hamlet). Illusorische Gegenstände referieren auf eine „falsche“ Art und Weise auf ein reales Vorbild (z.B. Fata Morgana).
Es bietet sich insofern an, Virtualität als eine genuine Form von Realität zu fassen, die neben physischer und mentaler Realität existiert. Die Besonderheit virtueller Realität besteht darin, dass sie beide anderen Formen von Realität voraussetzt und erst auf Basis von diesen entstehen kann. Dies bedeutet zwar, dass virtuelle Realitäten hochgradig abhängig sind, doch bedeutet die Abhängigkeit virtueller Realität von den sie erzeugenden materiellen Strukturen keinesfalls eine ontologische Nach- oder Unterordnung. Die Tatsache, dass virtuelle Realitäten auf physikalischen Realitäten emergieren, deutet vielmehr an, dass es sich dabei um ontologisch höherstufige Entitäten handelt. Denn auch unsere Gedanken sind, als Entitäten, obwohl von der materiellen Basis unseres Gehirns erzeugt, dennoch nicht darauf reduzierbar, ohne an Bedeutung zu verlieren. Wie aber hängen physische und virtuelle Realität genau miteinander zusammen? Die virtuelle Realität hängt mit der physischen (und mentalen) Realität insofern zusammen, als sie auf ihr emergiert. Dies bedeutet freilich nicht, dass sie nur auf ihr emergieren kann, sondern es lassen sich andere Szenarien denken, in welcher dieselbe virtuelle Realität auf einer anderen (materiellen) Basis emergiert. Man kann dies, in Anknüpfung an die Theorie der multiplen Realisierbarkeit des Mentalen in der Philosophie des Geistes (Putnam, Fodor) die „multiple mediale Realisierbarkeit“ des Virtuellen nennen. Dies zeigt sich am Beispiel des Geldes, welches ontologisch gleichermaßen durch das Medium Papier (als Banknote) wie auch durch das Medium digitaler Technik (als online-Bankguthaben) realisiert werden kann. Allerdings ist die ontologische Flexibilität des Geldes nur ein notwendiges, jedoch kein hinreichendes Kriterium für dessen virtuelle Realität. Es stellt sich nämlich die Frage, was genau der Grund dafür ist, dass in einem Fall ein Stück Papier einen objektiv-realen Wert hat (eine Banknote) und im anderen Fall nicht (Spielgeld). Dies wirft die Frage nach den Bedingungen auf, unter denen auf einer materiellen (oder technisch-digitalen) Basis eine virtuelle Realität überhaupt emergieren kann, und was hier „Emergenz“ genau bedeutet. In der neueren analytischen Ontologie hat insbesondere Lynne Rudder Baker (1944-2017) das Phänomen des Geldes dazu verwendet, um ihre Konstitutionstheorie („constitution view“) näher zu explizieren. Baker selbst geht im Rahmen ihrer Theorie zwar nicht explizit auf das Phänomen der virtuellen Realität ein, doch lässt sie sich für die Frage, wie genau die ontologische Flexibilität des Virtuellen zu verstehen ist, fruchtbar machen. Baker bestimmt die Konstitutionsrelation, als eine „pervasive relation“, die unsere Lebenswelt durchgehend strukturiert: „The general idea of constitution is this: When various things are in various circumstances, new things — new kinds of things with new kinds of causal powers — come into existence. […] Constitution is everywhere: Pieces of paper constitute dollar bills; pieces of cloth constitute flags; pieces of bronze constitute statues.“ (Baker 2000, 20 f.) Entscheidend für die Konstitution einer Entität ist nach Baker der spezifische Kontext, innerhalb dessen etwas konstituiert werden kann: „[W]hen a thing of one primary kind is in certain circumstances, a thing of another primary kind—a new thing, with new causal powers— comes to exist.“ Baker spricht hier von neuen kausalen Kräften – ganz im Sinne der Bedeutung virtueller Realität – die durch bestimmte Umstände auf ein Phänomen übergehen – wie etwa der Wert einer Banknote auf Basis eines bloßen bedruckten Blattes Papier, welches jedoch durch eine intersubjektive Gemeinschaft und Regeln Verbindlichkeit und Objektivität gewinnt. Baker spricht mit Blick auf diesen konstituierenden Umständen G davon, dass sie zwar notwendig, jedoch nicht hinreichend für die Konstitution einer bestimmten Entität F sind. Erst dann, wenn ein geeignetes F sich in den Umständen G befindet, wird es zu G konstituiert. Diese Eignung von F muss im Falle virtueller Realität in seiner medialen Struktur begründet sein. Ein gefrorenes Stück Butter etwa eignet sich nicht dafür, weil es mit der Zeit seinen Aggregatzustand ändern und durch Verfließen seine transtemporale Identität verlieren würde, welche eine Voraussetzung für die Zuschreibung von Wert ist. Bezogen auf virtuelle Realitäten bedeutet dies, dass diese nur unter bestimmten, medial geeigneten Bedingungen emergieren. Diese geeigneten Bedingungen können, müssen aber nicht digitaler Art sein. Wollen wir die etwas allgemeine Rede von „geeigneten Bedingungen“ weiter analysieren, so bietet es sich an, sie als einen medialen Kontext von Verbindlichkeit zu bestimmen. So wie Banknoten nur durch intersubjektive und juristisch garantierte Verbindlichkeiten ihren Wert erhalten, so digitale virtuelle Realitäten entweder durch den spezifischen Ort, den sie einnehmen, oder durch die spezifische Vernetzung, die sie im Internet erfahren. Bsp.: Computerspiele: Sie sind so lange bloße Simulationen oder simulierte Fiktionen, wie sie nur von einer Person gespielt werden, etwa im Falle eines Flugsimulators, der noch so real erscheinen kann. Sobald aber zwei Personen im Medium des Computerspiels interagieren, ist ihre Interaktion keine bloße Simulation mehr, sondern wird zu einer Form virtueller Realität.
Auch wenn die Digitalisierung für die Erzeugung von virtueller Realität eine große Rolle spielt, so ist doch nicht alles, was digitalisiert wird, dadurch schon eine virtuelle Realität. Oft geschieht es, dass wir mittels Digitalisierung etwas bloß simulieren – wie etwa einen digitalen Elefanten, oder nur digital abbilden. Der „digitale Elefant“ ist deswegen kein Elefant, weil er als Simulation auf einen realen Elefanten immer referiert. Anders verhält es sich dann, wenn wir ein physisches bzw. analoges Buch digitalisieren. Denn wenn wir dessen Zeichen digitalisieren, so handelt es sich dabei nicht mehr um eine Abbild-Relation. Die digitalisierten Zeichen referieren nicht auf die Zeichen des physischen analogen Buches, sondern auf die Bedeutung bzw. den Sinn. Ihre Referenz ist simulativ, sondern semantisch. Wenn wir also ein Buch digitalisieren, so erhalten wir durchaus ein virtuelles Objekt. Denn wir können nun damit ganz anders umgehen, etwa indem die ursprüngliche physisch bedingte Seitenbindung aufgehoben wird, wie etwa in einem Kindle-Lesegerät, oder indem wir gezielt nach bestimmten Wörtern suchen können, ohne ein Register mühsam durch Umblättern benutzen zu müssen. Auch digitale Unterstreichungen und sonstige Annotationen sind nun auf ganz neue Weise möglich, da hierbei kein physischer Kontakt zu dem Medium nötig ist, wie etwa im Falle von Anstreichungen bei einem physischen Buch.