Zusammenfassung 8. Sitzung, 5.12.2019 – Reinholds Theorie der Triebe

Die Basis von Reinholds positivem Freiheitsbegriff bildet seine komplexe, in sich differenzierte Trieblehre, welche er in expliziter Auseinandersetzung mit Kants Triebfedern-Lehre entwickelt. Als programmatisch kann dabei der Titel des Siebten Briefs gelten: Über den bisher verkannten Unterschied zwischen dem uneigennützigen und dem eigennützigen Triebe, und zwischen diesen beiden Trieben und dem Willen. Die zentrale Differenz zwischen dem uneigennützigen und dem eigennützigen Trieb ist, wie Reinhold betont, ein Unterschied, „aus dem sich, wenn er einmal zugegeben ist, alle in jener Darstellung […] aufgestellten Grund- Lehr und Folgesätze […] ergeben“[1].

Reinholds Trieblehre lässt sich in das Modell eines reflexiven zweistufigen Willens bringen, so dass beide Triebe Präferenzen erster Ordnung darstellen. Sie sind als menschliche Grundtendenzen immer schon willensmäßig strukturiert: „Die Forderungen der beyden Triebe, des eigennützigen und uneigennützigen, heißen Triebfedern des Willens, in wie ferne sie bey den willkürlichen Befriedigungen oder Nichtbefriedigungen des Begehrens beschäftigt sind.“[2] In seinem Begriff der „Forderung“ der Triebe denkt Reinhold bereits eine begriffliche Struktur der jeweiligen Triebe, so dass sie im Sinne von Maximen erster Ordnung verstanden werden können. Charakteristisch für jeden der beiden Grundtriebe erster Ordnung ist, dass sie nicht schon für sich allein genommen hinreichend für die Willensbestimmung sind, sondern nur inklinieren. Um handlungswirksam zu sein, bedürfen sie einer reflexiv-vernünftigen Zusatzhandlung – mit Kant gesprochen: eines „Komplements der Zulänglichkeit“.[3]

Anders als es die Tradition im Gefolge von Wolff und Baumgarten getan hatte, analysiert Reinhold den Willen nicht in ein oberes und ein unteres Begehrungsvermögen,[4] sondern „in zwey ursprüngliche, wesentliche verschiedene und wesentlich vereinigte Triebe“, „wovon der Eine, in der Sinnlichkeit gegründet, das Vergnügen überhaupt zum Objekte hat, der Andere, in der persönlichen Selbstthätigkeit vorhanden, ein lediglich durch sich selbst nothwendiges Gesetz aufstellt“[5]. Reinholds triebtheoretische Reformulierung des kategorischen Imperativs[6] führt im Rahmen seiner personalitätstheoretischen Transformation der Kantischen Autonomie-Lehre zu folgender Neubestimmung: „Bey allen deinen Willenshandlungen sey die Befriedigung oder Nichtbefriedigung deines eigennützigen Triebes der Forderung des uneigennützigen untergeordnet.“[7]

Die Forderung des eigennützigen wie des uneigennützigen Triebes sind „Vorschriften, die der Person, die eine durch bloße praktische Vernunft, die andere durch theoretische Vernunft, vermittelst Lust und Unlust gegeben sind.“[8] Beide Triebe lassen sich als verschiedene Arten des Vernunftgebrauchs verstehen – als theoretische Vernunft, die als instrumentelle Vernunft den eigennützigen Trieb befriedigt, indem sie die Zweck-Mittel-Relation auf Gegenstände anwendet, also die Welt allein aus der Eigenperspektive betrachtet, und als praktische, die den uneigennützigen Trieb befriedigt, indem sie eine normative Dimension eröffnet und die Interessen und Perspektiven anderer frei handelnder Personen der individuellen Entscheidung zu Grunde legt. Der uneigennützige Trieb lässt sich damit als geschichtlich und gesellschaftlich situierte und materialisierte Form des Sittengesetzes verstehen, welches dadurch in eine Realstruktur transformiert ist. Zugleich aber wird die Forderung des eigennützigen Triebs nicht mit Heteronomie eines unteren Begehrungsvermögens schlechthin identifiziert, sondern ist als Eigeninteresse eine ebenso mögliche Option freier Selbstbestimmung.

Die Forderungen beider Triebe sind begrifflich artikuliert, so dass sie selbst zu Momenten eines deliberativen Prozesses werden: Sie „müssen freylich bey jedem Wollen vorhanden seyn, und sind schon darum, weil ohne sie kein Wollen denkbar ist, Gründe, und weil die Gegenstände des Wollens durch sie bestimmt werden, objektive Gründe des Willens“[9]. Als objektive Gründe stellen die Artikulationen der beiden Triebe damit die Operationsbasis für den Gebrauch der Vernunft dar. Durch diese gründetheoretische Reformulierung beider Triebe sind die Gegenstände des Guten und Bösen nicht mehr wie bei Kant Hervorbringungen der reinen praktischen Vernunft, sondern gleichermaßen mögliche Angebote, – „an und für sich nur veranlassende, und nicht durch sich selbst bestimmende Gründe“[10] des Willens.[11] Dies bedeutet, dass jede Freiheitsentscheidung mit beiden Ansprüchen oder Forderungen der Triebe operieren muss, indem die Person diese in eine bestimmte Ordnung bringt: Sie werden „nicht durch die unwillkührliche Forderung, die nur allein Befriedigung, sondern durch die Willkühr, welche Befriedigung oder Nichtbefriedigung zum Objekt hat; nicht durch eine Wirkung der Person, sondern durch eine Handlung der Person“[12] befriedigt. Ein Subjekt, welches durch diese Triebe unwillkürlich und unmittelbar bestimmt würde – wie im Falle einer für sich selber praktischen Vernunft, die aufzuweisen gerade das Ziel der Kantischen Grundlegungsschriften war – wäre nach Reinhold, um die Terminologie Harry Frankfurts zu verwenden, ein bloß „Triebhafter“. Von beiden Trieben ist der Wille reflexiv dadurch unterschieden, „daß er sich selbst seine Handlungsweise bestimmt, mehr als Eine Handlungsweise hat, kein Trieb, sondern ein freyes Vermögen ist“[13].

Der Wille, oder genauer gesagt die Willkür (zwischen denen Reinhold nicht streng unterscheidet[14]) betrifft nach Reinhold die Ebene der reflexiven Einstellungen gegenüber den verschiedenen Arten des Begehrens, insofern die Person sich „selbst zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines Begehrens, oder einer Forderung […] bestimmen“[15] kann. Beide Triebe gelten somit als zu wählende Optionen der Freiheit, nicht als ihre Produkte: Sie konstituieren die dynamisch strukturierte Basis der Freiheit, welche Reinhold in einem weiten Sinne als „Sittlichkeit“ bezeichnet.[16] Im Gegensatz zu Kant vermag Reinhold dadurch zwischen einem engen und weiten Begriff von Sittlichkeit zu unterscheiden, was Kant durch die Fixierung auf das obere Begehrungsvermögen nicht zu leisten vermochte. Die Freiheitsentscheidung entsteht nun durch die spezifische Zusammenführung beider Triebe zu einem integrierten Willen:

In der sittlichen Handlung ist absolute praktische Nothwendigkeit und Freyheit in so ferne vereinigt [Hervorh. J.N.], als das absolut nothwendige Gesetz, die Wirkung der praktischen Vernunft, durch Willkühr in einem gegebenen Falle ausgeführt, und in so ferne zur Wirkung der Freyheit gemacht ist. In der unsittlichen Handlung ist die Naturnothwendigkeit und die Freyheit in so ferne vereinigt [Hervorh. J.N.], als die bloß dem Naturgesetze des Begehrens gemäße, aber dem praktischen Gesetze widersprechende Forderung des eigennützigen Triebes durch Willkühr ausgeführt, und in so ferne zur Wirkung der Freyheit erhoben ist.[17]

Der Kantische Gedanke einer Autonomie der Vernunft wird damit durch Reinhold entschieden herabgestuft, denn es ist nicht mehr die reine praktische Vernunft, die als Freiheitsinstanz den Willen allein unmittelbar zu bestimmen und zur Wirklichkeit erheben vermag. Oder wie Reinhold formuliert: „Die Wirklichkeit der Befriedigung des eigennützigen Triebes hängt nicht mehr von diesem [uneigennützigen] Triebe allein ab“[18]. Positive Freiheit besteht nach Reinhold deshalb „in der Selbstthätigkeit der Person beym Wollen, einer ganz besondern Selbstthätigkeit, die von der Selbstthätigkeit der Vernunft, oder durch Vernunft genau unterschieden werden muß“[19]. Diese „besondere Selbsttätigkeit“ besteht, wie bereits beschrieben, in der Wirkung der Willkür, die, obwohl von reiner praktischer Vernunft verschieden, dennoch in einem reflexiven Verhältnis des Gebrauchs zu ihr steht.

[1] Reinhold, Briefe II, 161.

[2] Reinhold, Briefe II, 178.

[3] Reinhold knüpft hier explizit an die begriffliche Tradition der Aufklärung (bei Leibniz, Wolff und Baumgarten) an, in welcher der Begriff des Triebes unter Rückgriff auf die Antike (etwa den Aristotelischen Begriff der ὄρεξις), weit verbreitet war, auch wenn der Triebbegriff dort nicht einheitlich gebraucht und definiert wurde. Zur detaillierten triebtheoretischen Auseinandersetzung Reinholds mit Aufklärungsphilosophen wie Crusius, Platner, Schulze und Tetens vgl. Bondeli (2008b), 366 f. Ausdrücklich führt Reinholds den Begriff des Triebes – wenn auch noch nicht die Unterscheidung von eigennützigem und uneigennützigem Trieb – in den praktischen Diskurs im Dritten Buch seines Versuchs einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens (1789; hg. von Martin Bondeli u. Silvan Imhof, Basel 2013) ein, wo er die „Grundlinien der Theorie des Begehrungsvermögens“ darlegt (355-366). Vgl. zum Begriff des Triebes ganz allgemein sowie speziell mit Blick auf Reinhold: Cesa (1993), 167 ff.

[4] Baumgarten definiert in seiner Metaphysik, 510, 163, das Begehrungsvermögen „in so ferne es dem obern Erkenntnißvermögen folgt“ als „das obere oder der Wille (facultas appetiua superior, animus, voluntas vel noluntas)“.

[5] Reinhold, Briefe II, 134.

[6] „Ich nenne sie [die praktische Vernunft] einen Trieb, in wie ferne sie unwillkührlich thätig ist, und eine bestimmte, einzig mögliche, folglich schlechthin nothwendige Handlungsweise hat.“ (Briefe II, 134)

[7] Reinhold, Briefe II, 139. Der uneigennützige Trieb ist „einzig und allein die praktische Vernunft im Gegensatz mit dem Triebe nach Vergnügen, in wie ferne sie als Trieb gedacht werden muß, dessen Forderung ein Gesetz ist, dem alle freywilligen Befriedigungen des eigennützigen Triebes unterworfen sind.“ (Briefe II, 135)

[8] Reinhold, Briefe II, 179.

[9] Reinhold, Briefe II, 181.

[10] Reinhold, Briefe II, 181.

[11] Hier knüpft Reinhold an die Unterscheidung von bloß inklinierenden und nezessitierenden Gründen des Willens nach Leibniz an (Leibniz, NA II, 21,155.). Vgl. auch Bondeli (2008b), 372.

[12] Reinhold, Briefe II, 174.

[13] Reinhold, Briefe II, 134.

[14] Reinholds Verwendung des Willkürbegriffs im zweiten Briefband ist durchaus ‚willkürlich‘ zu nennen, denn er grenzt diesen nicht streng genug von dem Begriff ‚bloßer Willkür‘ ab. So findet sich zwar an einschlägigen Stellen im Siebten Brief die Wendung einer Freiheit „durch die Willkühr“ (174), und auch Wendungen eines willkürlichen Vernunftgebrauchs (z.B. 179 f.). Häufig wird der Begriff jedoch nur in Abgrenzungsverhältnissen („unwillkührlich“) oder gar im pejorativen Sinn („Willkühr eines Despoten; [78]; „willkührliche Fürstengewalt und Intoleranz“ [90]; „Privatwillkühr“ [84]; „bloße Willkühr“ [113]). Damit gehört Reinhold, wie Kant, in eben jene Phase des ideengeschichtlichen ‚Wendepunktes‘ der Bedeutung des Willkürbegriffs.

[15] Reinhold, Briefe II, 174.

[16] Vgl. Reinhold, Briefe II, 138: „Sittlichkeit (Moralität) in weiterer Bedeutung, heißt das bey einer Willenshandlung vorkommende Verhältniß zwischen den Forderungen des eigennützigen und uneigennützigen Triebes. Sittlichkeit in engerer Bedeutung, (moralische Güte) die bey einer Willenshandlung vorkommende Unterordnung der Befriedigung des eigennützigen Triebes, unter die Forderung des uneigennützigen; das Gegenteil davon – Unsittlichkeit (Immoralität). Vgl. zu den realistischen Implikationen dieses Sittlichkeitsbegriffs auch Bondeli (2001), 251.

[17] Reinhold, Briefe II, 201.

[18] Vgl. Reinhold, Briefe II, 197 f.

[19] Reinhold, Briefe II, 192.