Zusammenfassung: Kants Begriff des Guten

Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ verfährt methodisch so, dass sie von dem „gemeinen“, also alltäglichen Moralbegriff ausgeht und von diesem aus durch Analyse seiner impliziten Bedingungen zum höchsten Moralprinzip, dem Sittengesetzt, vordringt. Unser gewöhnliches Moralbewusstsein wird also nach Kant aufgeklärt, und es kann a priori, also unabhängig von konkreter Erfahrung, gezeigt werden, dass ihm ein absolutes Sittengesetz zugrunde liegen muss, wenn man es nur konsequent durchdenkt. Von diesem höchsten Moralprinzip der Moral ist dann aber der Weg zurück bzw. ‚hinunter‘ zum alltäglichen Moralverständnis „synthetisch“, d.h. gehaltserweiternd und ‚überraschend‘. Wir können uns dies an folgendem Beispiel genauer veranschaulichen: Nach unserer Alltagsmoral ist die Notlüge durchaus erlaubt, etwa dann, wenn wir dadurch eine unschuldige Person retten können. Nach Kant ist jedoch durch das Sittengesetz absolut gefordert, dass wir in keinem Fall lügen dürfen, selbst dann, wenn wir dadurch eine Person retten könnten. Dieses absolute Lügenverbot und die absolute Geltung des Sittengesetzes sind nicht ohne weiteres einzusehen. Das absolute moralische Gebot des kategorischen Imperativs drängt sich uns auf, und zwar aus reiner Vernunft.

Kant beginnt seine Analyse des alltäglichen Moralverständnisses damit, dass er metaethisch den Begriff des Guten analysiert und diejenige Bedeutung von „gut“ identifizieren will, die das unbedingte bzw. absolute Gut darstellt. Zugleich etabliert Kant seinen deontologischen Ansatz gegenüber eudaimonistischen, tugendethischen und konsequentialistischen Ansätzen. „Gut“ kann ganz verschiedenes genannt werden, z.B. „Verstand, Witz, Urtheilskraft und wie die Talente des Geistes sonst heißen mögen, oder Muth, Entschlossenheit, Beharrlichkeit im Vorsatze als Eigenschaften des Temperaments“ (4:393). Diese ‚Sekundärtugenden‘ sind jedoch nicht intrinsisch gut, weil sie für moralisch schlechte Dinge verwendet werden können. Ebenso verhält es sich mit den „Glücksgaben“, also „Macht, Reichthum, Ehre, selbst Gesundheit und das ganze Wohlbefinden und Zufriedenheit mit seinem Zustande unter dem Namen der Glückseligkeit“. Dieser „Eudaimonismus“ ist deswegen nicht absolut gut zu nennen, da sie ausarten können, wenn sie nicht selbst wiederum von einem guten Willen kontrolliert werden. Sie haben keinen inneren Maßstab des Guten. Auch würde „ein vernünftiger unparteiischer Zuschauer sogar am Anblicke eines ununterbrochenen Wohlergehens eines Wesens, das kein Zug eines reinen und guten Willens ziert, nimmermehr ein Wohlgefallen haben“, so dass „der gute Wille die unerlaßliche Bedingung selbst der Würdigkeit glücklich zu sein auszumachen scheint.“ Charaktertugenden, wie „Mäßigung in Affecten und Leidenschaften, Selbstbeherrschung und nüchterne Überlegung“ (4:393) sind nach Kant deswegen nicht intrinsisch gut, da sie „immer noch einen guten Willen voraus[setzen], der die Hochschätzung, die man übrigens mit Recht für sie trägt, einschränkt und es nicht erlaubt, sie für schlechthin gut zu halten“. Gegenüber dem Konsequentialismus argumentiert Kant, dass ein guter Wille „nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d.i. an sich, gut und, für sich selbst betrachtet, ohne Vergleich weit höher zu schätzen [ist] als alles, was durch ihn zu Gunsten irgend einer Neigung, ja wenn man will, der Summe aller Neigungen nur immer zu Stande gebracht werden könnte.“ (IV:394). Kant diskutiert den Fall, dass zwar eine moralische Absicht gefasst wurde, jedoch daraus keine nützlichen Handlungsfolgen entsprangen. Seiner Auffassung nach sind die Handlungsfolgen einer Absicht für ihre moralische Bewertung nur äußerlich: „Wenn gleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals, oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlte, seine Absicht durchzusetzen; wenn bei seiner größten Bestrebung dennoch nichts von ihm ausgerichtet würde, und nur der gute Wille (freilich nicht etwa als ein bloßer Wunsch, sondern als die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind) übrig bliebe: so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das seinen vollen Werth in sich selbst hat. Die Nützlichkeit oder Fruchtlosigkeit kann diesem Werthe weder etwas zusetzen, noch abnehmen. Sie würde gleichsam nur die Einfassung sein, um ihn im gemeinen Verkehr besser handhaben zu können, oder die Aufmerksamkeit derer, die noch nicht gnug Kenner sind, auf sich zu ziehen, nicht aber um ihn Kennern zu empfehlen und seinen Werth zu bestimmen.“ (GMS, 4:394) Der gute Wille verhält sich zu seinen Handlungsfolgen so wie Substanz und Akzidens, oder, wie Kant sagt, wie ein Juwel und seine bloße Einfassung. Kant gesteht selbst ein, dass „in dieser Idee von dem absoluten Werthe des bloßen Willens, ohne einigen Nutzen bei Schätzung desselben in Anschlag zu bringen, etwas so Befremdliches [liegt], daß unerachtet aller Einstimmung selbst der gemeinen Vernunft mit derselben dennoch ein Verdacht entspringen muß, daß vielleicht bloß hochfliegende Phantasterei ingeheim zum Grunde liege.“

Allerdings folgt aus Kants These ein (scheinbares) Paradox:

(Deontologie-These): Gut ist nur ein guter Wille, unabhängig von seinen Handlungsfolgen.

(Heteronomie-These): Wir haben die Folgen einer Handlung nicht in der Hand.

(Paradox): Also ist selbst eine Welt, in der nur gute Willen existieren, aber keine nützlichen Handlungen daraus resultieren, besser als eine Welt, in welcher weniger gute Willen existieren, jedoch zahlreiche nützliche Handlungsfolgen entstehen.

Das Problem der Deontologie besteht in unserer starken Intuition, dass ein guter Wille einen kausalen Unterschied in der Welt bewirken muss, d.h. dass zum moralisch Guten immer auch eine Veränderung in der Welt gehören muss. Dies trifft der Spruch von Erich Kästner: „Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es.“