Einführung in Fichtes „System der Sittenlehre“

Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) ist einer der wichtigsten Philosophen des „deutschen Idealismus“ bzw. der „klassischen deutschen Philosophie“, neben Immanuel Kant, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Gemein ist Fichte mit Schelling und Hegel, dass seine Philosophie sehr stark von der Philosophie Immanuel Kants (1724-1804) beeinflusst wurde. Immanuel Kant hatte vor allem in seiner berühmten Schrift Kritik der reinen Vernunft (1781) einen sogenannten „transzendentalen Idealismus“ entwickelt, der besagt, dass unsere Subjektivität der Grund unserer Erkenntnis der Dinge in der Welt ist. Eine solche „transzendentale Subjektivität“ ist nicht im Sinne von „bloßer“ Subjektivität im Gegensatz zu verbindlicher „Objektivität“ zu verstehen, sondern ermöglicht vielmehr erst Objektivität. Kant spricht davon, dass diese transzendentale Subjektivität die „Bedingung der Möglichkeit“ von objektiver Erkenntnis ist. Kant ist insofern ein transzendentaler Idealist, als er argumentiert, dass Raum und Zeit in der Welt und den Dingen nicht an sich, also unabhängig von dieser Subjektivität existieren, sondern nur durch sie. Raum und Zeit sind, wie Kant sagt, „subjektive Anschauungsformen“ der Dinge, existieren aber nicht ohne diese transzendentale Subjektivität in den Dingen und der Welt. Fichte knüpft, mehr noch als Schelling und Hegel, an diese kantische Einsicht an. Er nennt seine Philosophie „Wissenschaftslehre“ und versteht darunter ein streng ausgearbeitetes System, welches auf einem „ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz“ basiert. Darunter versteht Fichte im Anschluss an Descartes und auch an Kant die absolute Gewissheit unseres Selbstbewusstseins, die er aber nun auch praktisch wendet und als „Tathandlung“ des Selbstbewusstseins fasst, welches sich selbst als solches immer schon „setzt“. Selbstbewusstsein ist daher nach Fichte der „absolute Grundsatz alles Wissens“ und daher auch das Prinzip seiner Wissenschaftslehre. Fichte hat jedoch nicht nur eine Wissenschaftslehre verfasst, sondern seit 1794 verschiedene Versionen davon immer wieder seinen Zuhörern an der Universität Jena vorgetragen. Neben Kants Kritik der reinen Vernunft ist für Fichte auch Kants Kritik der praktischen Vernunft aus dem Jahr 1788 von besonderer Bedeutung. Darin hatte Kant versucht, die Objektivität der Moral auf Basis eines Begriffs von Vernunft zu begründen, der nicht auf empirische und individuelle Einflüsse angewiesen ist. Besonders zentral ist dabei Kants „kategorischer Imperativ“, der darin besteht, dass wir unsere individuellen Wünsche auf ihre vernünftige Verallgemeinerbarkeit hin untersuchen sollen, um moralisch zu handeln.

Fichtes 1798 veröffentlichtes „System der Sittenlehre“ ist, wie er im Titel schreibt, „nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre“, d.h. nach dem Grundsatz des Selbstbewusstseins, aufgebaut. Die Schrift besteht aus drei Hauptstücken. Im ersten Hauptstück versucht Fichte, das Prinzip der Sittlichkeit zu „deduzieren“. Damit ist gemeint, dass Fichte, dieses Prinzip streng „wissenschaftlich“ herleiten, begründen und rechtfertigen will, ganz ähnlich, wie Kant zuvor seinen kategorischen Imperativ begründet hatte. Im zweiten Hauptstück setzt sich Fichte zum Ziel, dieses allgemeine und noch recht abstrakte Prinzip in seiner Realität und Anwendbarkeit zu begründen. Im dritten Hauptstück versucht Fichte schließlich, das Prinzip der Sittlichkeit systematisch anzuwenden. Konkrete Fragestellungen, die Fichte in seinem „System der Sittenlehre“ behandelt, sind u.a. die Fragen, welche moralischen Pflichten jeder von uns hat, und wie wir dazu kommen, unmoralisch zu handeln, wenn wir doch das Prinzip der Sittlichkeit eigentlich einsehen können. Fichtes „System der Sittenlehre“ hat in jüngster Zeit besondere Beachtung gefunden, nicht nur in Deutschland, sondern auch in der angelsächsischen Philosophie. Dies ist auf den ersten Blick verwunderlich, da Fichte bislang nur als „kontintentaler“ Philosoph galt, dessen Argumente nicht analytisch anschlussfähig seien. Bei der Interpretation von Fichtes Werk gilt es daher besonders, immer auf systematische Fragestellungen zu achten, und sich von seinen eigentümlichen Begrifflichkeiten nicht abschrecken zu lassen. Dies kann insofern gelingen, als man versucht, seine verschiedenen Beiträge zu systematischen Fragestellungen zu rekonstruieren, indem man sich nicht auf der Ebene des Ausdrucks paraphrasierend aufhält, sondern Fichtes Denken und Motiven dahinter auf die Spur kommt.