John Stuart Mills Theorie des Utilitarismus

John Stuart Mill (1806-1873) gilt als einer der Hauptvertreter der Philosophie des Utilitarismus. Mill ist nicht der „Erfinder“ dieser Theorie, sondern wurde von Jeremy Bentham (1748-1832), einem ebenfalls englischen Philosophen, beeinflusst. Mills Philosophie tritt vor einem von Kant abweichenden Hintergrund auf: Dem (britischen) Empirismus und einer veränderten gesellschaftlichen Situation, in welcher der Demokratisierungsprozess noch weiter vorangeschritten ist, wodurch der Begriff der Gesellschaft freier Individuen stärker ins Zentrum rückt.

Zum näheren Verständnis von Mills Moralphilosophie ist ein Vergleich mit den Moraltheorien Aristoteles’ und Kants von Bedeutung. Mills Theorie des Utilitarismus versucht nämlich, zwei Anforderungen gerecht zu werden: Es soll ein möglichst objektives Kriterium für Moralität, ein übergeordnetes Prinzip der Normativität gefunden werden (das ist die Kantische Seite). Es soll aber zugleich gezeigt werden, wie man mit Blick auf das Handeln des Einzelnen einen moralisch guten Charakter erreichen und Tugenden entwickeln kann, wie also eine moralisch gute Lebensführung gedacht werden muss, die sich intersubjektiv bewährt. Das Projekt von Mills Utilitarismus besteht darin, die individuelle Pflichtethik bei Kant, in welcher die Gesinnung im Zentrum steht, mit einem intersubjektiven Sozialisierungsprozess, in dem der Nutzen der Handlung des Einzelnen für die Gesellschaft entscheidend ist, zu verbinden.

Kant hatte in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten die Frage aufgeworfen, was schlechthin gut sei. Nach Mill muss das moralisch Gute aber immer auch mit Blick auf die einzelne Person erklärt werden können. Der Unterschied zu Kant besteht bei Mill deshalb in einem veränderten Verständnis der Generalisierungsforderung des Kategorischen Imperativs, insofern nun nicht mehr die (logische) Widerspruchsfreiheit von subjektiven Handlungsgrundsätzen (Maximen), sondern der Nutzen für eine konkrete Gesellschaft, das Gesamtinteresse im Vordergrund steht. Mill wirft Kants Gesinnungsethik vor, dass sie zu einer Form von Gesellschaft führen würde, in welcher letztlich niemand leben möchte: „Die  Auffassung, für die die Nützlichkeit oder das Prinzip des größten Glücks die Grundlage der Moral ist, besagt, daß Handlungen insoweit und in dem Maße moralisch richtig sind, als sie  die Tendenz haben, Glück zu befördern, und insoweit moralisch falsch, als sie die Tendenz  haben, das Gegenteil von Glück zu bewirken.“ (13)

Wie Aristoteles, so stellt sich auch Mill die Frage nach der Möglichkeit der Entwicklung eines guten und tugendvollen Charakters des Menschen, den er als ein Vernunftwesen versteht. Wie bei Aristoteles, so erfolgt auch nach Mill die Motivation zur moralischen Handlung durch das Streben nach Glückseligkeit. Dieses Glück darf jedoch nicht individualistisch missverstanden werden. Es gilt nach Mill, „daß das Glück, das den utilitaristischen  Maßstab des moralisch richtigen Handelns darstellt, nicht das Glück des Handelnden selbst, sondern das Glück aller Betroffenen ist.“ (30)

Als zentral für seine Theorie erweist sich Mills Verständnis von Lust und Nützlichkeit, wobei der Bezugspunkt der Mensch als gesellschaftliches Wesen ist. Lust darf hier nicht allein im Sinne der Erfüllung von bloßen Begierden verstanden werden, sondern schließt auch so etwas wie eine Kultivierung als geistige Lust ein. Mill grenzt sich von dem ebenfalls englischen Philosophen Thomas Hobbes ab, der davon ausgegangen war, dass „der Mensch dem Menschen ein Wolf“ (homo homini lupus) sei und nur auf Basis von Eigeninteresse handle. Nach Mill muss die Nützlichkeit (utilitas) ein viel komplexerer Begriff als die bloße Lust und das individuelle Glücksgefühl sein, insofern das Wohl der Allgemeinheit immer im Vordergrund steht, so dass die Ausrichtung des eigenen Tuns immer an der Ausrichtung des Tuns der Gesellschaft orientiert werden muss: „[D]ie Norm des Utilitarismus ist nicht das größte Glück des Handelnden selbst, sondern das größte Glück insgesamt.“ (20) Wer richtig sozialisiert und gebildet ist, der wird nach Mill immer danach fragen, ob sein Handeln mit dem Wohle aller kompatibel ist. Es geht Mill also um eine Dynamisierung des Nutzen-Begriffs in Form eines Bildungs- und Erziehungsprozesses. Die eigenen Interessen sollen letztlich mit den Interessen der Gemeinschaft konvergieren: „Der Utilitarismus kann sein Ziel daher nur durch die allgemeine Ausbildung und Pflege eines edlen Charakters erreichen, selbst wenn für jeden einzelnen der eigene Edelmut eine Einbuße an Glück und nur jeweils der Edelmut der anderen einen Vorteil bedeuten würde.“ (21) Damit wird nach Mill die Sozialität zu einer Art zweiten Natur des Menschen: Der Mensch lernt, seine eigene Taten an den Zielen des Allgemeinen auszurichten.