Kants Theorie moralischer Normativität

Kants Ethik ist eine formale Ethik. Damit ist gemeint, dass es ihm bei der Begründung und Erkenntnis der moralischen Prinzipien nicht auf bestimmte Tugenden, gesunde Mitte, individuelle Zwecke oder Konsequenzen einer Handlung ankommt, sondern auf die formale, vernünftige Grundstruktur unseres Wollens. Nach Kant ist derjenige Wille moralisch, der nur durch die Form des Sittengesetzes bestimmt ist. Dies ist nach Kant der „reine Wille“. Kant entwickelt die Normativität der Moralität aus der vernünftigen Verallgemeinerbarkeit unserer Willensabsichten, wobei das normative Kriterium für diese die widerspruchsfreie Verallgemeinerbarkeit ist. Hier stellt sich freilich die Frage, wie genau diese Widerspruchsfreiheit zu verstehen ist. Denn logische Widersprüche scheinen als solche noch keine moralische Normativität zu garantieren und Moralität begründen zu lassen. Der Satz „3 und 3 ergibt 5“ beinhaltet zwar einen logischen Widerspruch, doch ist dieser moralisch völlig neutral, es folgt daraus moralisch kein Gebot oder Verbot.

Kant unterscheidet Maximen von praktischen Gesetzen. Maximen sind „subjektiv-praktische Prinzipien“, die unser Wollen und Handeln leiten. Praktische Gesetze hingegen sind objektive Prinzipien, die nicht nur subjektive, sondern allgemeine Geltung haben. Wir handeln nach Kant dann moralisch, wenn wir unsere subjektiven Handlungsmaximen so wählen, dass sie nicht nur subjektive, sondern allgemeine Geltung haben könnten. Dies ist genau das Gebot des kategorischen Imperativs: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könne“ (5:30). Dies ist der sogenannten „Maximentest“. Die allgemeine Geltung unserer Maximen bedeutet, dass sie vernünftig verallgemeinert werden können. Hier stellt sich nun die Frage, was „vernünftig“ und „verallgemeinerbar“ bzw. „nicht-widersprüchlich“ bedeutet.

Kant argumentiert, dass dieser Maximentest keine großen kognitiven Anforderungen an uns stellt, sondern dass dies „der gemeinste Verstand ohne Unterweisung unterscheiden“ (5:27) könne. Kant legt deswegen so viel Wert darauf, dass wir sehr leicht den Maximentest vornehmen können, da er vermeiden möchte, dass das Gelingen von individuellen kognitiven Begabungen abhängt. Demnach wären dann intelligentere Personen moralischer als weniger intelligente. Als Beispiel führt Kant ein „Depositum“, also einen entliehenen Gegenstand an. Eine zu prüfende Maxime könnte etwa lauten: „Ich habe z.B. es mir zur Maxime gemacht, mein Vermögen durch alle sichere Mittel zu vergrößern.“ Nun tritt ein besonderer Fall dieser allgemeinen Maxime ein: „Jetzt ist ein Depositum in meinen Händen, dessen Eigenthümer verstorben ist und keine Handschrift darüber zurückgelassen hat“. Der Maximentest funktioniert nun folgendermaßen: „Ich wende jene also auf gegenwärtigen Fall an und frage, ob sie wohl die Form eines Gesetzes annehmen, mithin ich wohl durch meine Maxime zugleich ein solches Gesetz geben könnte: daß jedermann ein Depositum ableugnen dürfe, dessen Niederlegung ihm niemand beweisen kann.“ Kant argumentiert, dass wir unmittelbar, und nicht erst durch lange Überlegungen, erkennen, dass sich diese Maxime nicht vernünftig verallgemeinern lässt: „Ich werde sofort gewahr, daß ein solches Princip, als Gesetz, sich selbst vernichten würde, weil es machen würde, daß es gar kein Depositum gäbe.“ Hier stellt sich nun die Frage, wie Kants These zu verstehen ist, „dass es gar kein Depositum gäbe“. Kant schreibt an einer anderen Stelle, dass durch den Maximentest unsere gefasste Maxime sich „in der Form eines allgemeinen Gesetzes“ „selbst aufreiben“ müsste (5:28). Wie ist diese „Vernichtung“ und „Aufreibung“ zu verstehen? Hier liegt es nahe, diese Vernichtung nicht ontologisch zu verstehen, in dem Sinne, dass das Depositum dadurch vernichtet würde. Vielmehr wird dadurch der Begriff des Depositums vernichtet oder besser: sinnlos. Denn der Begriff des Depositums besteht u.a. darin, ein Versprechen zu geben, d.h. anzuerkennen, dass man juristisch nur Besitzer, jedoch nicht Eigentümer des geliehenen Gegenstandes ist. Es handelt sich bei einem Depositum also um eine soziale Institution, die nur durch eine Vertrauensbeziehung zwischen mehreren Personen existieren kann, und die durch die problematische Maxime zerstört würde. Würde die Maxime verallgemeinert werden, dass würden solche sozialen Institutionen wie Deposita sinnlos werden und insofern nicht mehr existieren.

Es handelt sich jedoch bei diesem Widerspruch streng genommen auch nicht um einen reinen logischen Widerspruch, sondern um einen performativen (Selbst-)Widerspruch. Ein performativer Widerspruch ist ein Widerspruch, der dadurch entsteht, dass Form und Inhalt einer Äußerung sich widersprechen. Ein Beispiel dafür ist der Satz „Dieser Satz ist falsch“ oder die Aussage „Ich spreche gerade nicht“. Allerdings folgen auch aus performativen (Selbst-)Widersprüchen keine moralischen Gesetze oder Normativitäten. Dass ich mir in einer bestimmten Hinsicht performativ selbst widerspreche, bedeutet nicht automatisch, dass ich dadurch unmoralisch bin. Entscheidend ist hierbei jedoch nach Kant, dass es sich nicht um einen theoretisch-logischen performativen Selbst-Widerspruch handelt, der unsere theoretische Vernunft betrifft, sondern um einen Widerspruch unseres Willens, der unsere praktische Vernunft betrifft. Es handelt sich also um einen volitionalen performativen Selbst-Widerspruch. Nun argumentiert Kant, dass unser Wille, insofern er ein reiner Wille ist, immer auf die Form des Sittengesetzes bezogen ist. Alles Wollen vollzieht sich nach Kant vor dem Hintergrund des kategorischen Imperativs. Gerade deswegen ist ein performativer Selbstwiderspruch auch ein Widerspruch mit Blick auf das Sittengesetz, und deswegen normativ moralisch problematisch. Kant spricht davon, dass unser Bewusstsein von der absoluten Forderung des Sittengesetzes nichts Empirisches ist, was wir durch Erfahrung und Erziehung lernen. Es ist vielmehr etwas, was in unserer Vernunft selbst liegt. Das Sittengesetz ist jedoch nicht derart vernünftig, wie es etwa die Logik ist. Denn logische Aussagen sind nur analytische Verhältnisbestimmungen, die zu keiner Gehaltserweiternden („synthetischen“) Erkenntnis führen. Kant vertritt nun aber die These, dass das Bewusstsein des Sittengesetzes eine synthetische Erkenntnis ist, die wir vor aller Erfahrung, also a priori, besitzen. Kant spricht davon, dass das Bewusstsein des Sittengesetzes ein „Faktum der Vernunft“ ist. Damit meint er, dass die praktische Vernunft unabhängig von empirischer Erfahrung selbst Gehalte generiert, die über eine bloße analytische Begriffsanalyse hinausgehen. Wir wissen nach Kant von der moralischen Pflicht vor aller empirischen Erfahrung, und die moralische Pflicht bedeutet für uns gewissermaßen eine Erfahrung der moralischen Vernunft.