Goethe knüpft in seiner Naturphilosophie an Blumenbachs Bildungstrieb an. Er vertritt die These, dass der Bildungstrieb ohne den Begriff der Metamorphose „nicht zu fassen sei“. In diesem Zusammenhang spricht Goethe auch von der „Einheit“ und „Freiheit“ des Bildungstriebs. Diese Begriffe verwendet Blumenbach im Kontext des Bildungstriebes jedoch nicht. Was könnte Goethe damit meinen? Die „Einheit“ des Bildungstriebes kann bedeuten, dass ein Organismus durch ihn seine Identität erhält (durch Zeugung) und bewahrt (durch Ernährung und Reparation). In der Behauptung des Zwecks, seine Wesensidentität zu bewahren, kann eine Form von Selbstbestimmung gesehen werden. Der Organismus besitzt eine selbstbezügliche Struktur. Es geht ihm um die aktive Aufrechterhaltung seiner Existenz. In dieser triebhaften Selbstbezüglichkeit kann eine Form von Autonomie oder auch Freiheit erblickt werden. Goethe bestimmt das Leben in Anknüpfung an Aristoteles als eine dynamische Einheit von Form und Materie. Im Unterschied zu einer durch Materie geformten Statue besteht die Einheit von lebenden Organismen darin, dass sie durch „Vermögen“, „Kraft“, „Gewalt“, „Streben“ und „Trieb“ aufrecht erhalten wird.
Goethe befasst sich vor allem mit der Metamorphose der Pflanzen. Es geht ihm darum, die Einheit des Organismus trotz oder gerade durch seine verschiedenen Formen und Wandlungen zu begreifen. Er bestimmt Metamorphose als „die Wirkung, wodurch ein und dasselbe Organ sich uns mannigfaltig verändert sehen läßt“. Hinsichtlich der Metamorphose unterscheidet Goethe drei Arten: die regelmäßige, die unregelmäßige und die zufällige. Die regelmäßige Metamorphose ist dadurch ausgezeichnet, dass eine Pflanze durch verschiedene Formen sich bis zu einem Zustand entwickelt, in dem sie sich fortpflanzen kann. Goethe spricht hierbei von einer „geistigen Leiter“, die ihre Entwicklung nimmt und die zu den „Werken der Liebe“ führt.
Goethe verwendet im Zusammenhang seiner Morphologie auch den Begriff der „Gestalt“. Es geht ihm dabei nicht so sehr um die Analyse der Natur in ihre Teile, sondern um die Arten und Weisen ihres organischen Zusammenhangs. Goethe bestimmt das Verhältnis der Morphologie zu anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen wie der Anatomie, der Chemie und der Naturgeschichte derart, dass diese sich „hauptsächlich mit organischen Gestalten, ihrem Unterschied, ihrer Bildung und Umbildung abgibt.“ Gegenüber der Naturgeschichte und der Anatomie ist die Morphologie nach Goethe insofern ausgezeichnet, als sie einen allgemeinen Überblick über den Zusammenhang und die Ordnung der Formen und Gestalten des Lebendigen gibt, das Leben also nicht in seiner statischen Momentaufnahme, sondern in und aus seiner Dynamik heraus begreift. Es geht dem Morphologen um „die organische Natur als ein belebtes Ganzes“ – also um einen holistischen Begriff der Natur. Goethe drückt dies folgendermaßen aus: „Die Gestalt steht in bezug auf die ganze Organisation, wozu der Teil gehört, und somit auch auf die Außenwelt, von welcher das vollständig organisierte Wesen als ein Teil betrachtet werden muß.“ Man könnte die Morphologie mit moderner Begrifflichkeit auch als einen phänomenologischen und zugleich ökologischen Zugang charakterisieren. Goethe spricht im Rahmen seiner holistischen Naturlehre auch von einer „Ökonomie der Natur“.
Goethe bemerkt hinsichtlich der Pflanze, dass ihre Identität im Wandel ihrer Formen nur schwer fixiert werden kann. Es handelt sich dabei nur um ein „scheinbares Ganzes“, das „aus sehr unabhängigen Teilen“ besteht. Dies zeigt sich darin, dass wir eine Pflanze teilen und ihre Teile neu verpflanzen können, so dass ihre Identität unbestimmt ist. Anders verhält es sich hingegen mit tierischen Lebensformen. Die Teile der Tiere sind nicht nur, wie bei Pflanzen, geordnet und verknüpft, sondern werden durch Wille und Trieb zentral geleitet, dem sie alle untergeordnet sind.