Zusammenfassung 7. Sitzung, 30.11.2018: Robert Kanes Libertarianismus

In der Regel wird in der freiheitstheoretischen Debatte unter „Kompatibilismus“ die Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus verstanden. Demnach impliziert der Kompatibilismus die Falschheit des Indeterminismus. Robert Kanes Position bestreitet die Wahrheit des Determinismus und argumentiert stattdessen für die Kompatibilität von Freiheit und Indeterminismus. Diese Form von ‚Kompatibilismus‘ wird in der gegenwärtigen Debatte als „Libertarismus“ bzw. – um Verwechslungen mit einer gleichlautenden politisch-philosophischen Position zu vermeiden – als „Libertarianismus“ bezeichnet. Zwei freiheitstheoretische Anforderungen bilden für Kane die Ausgangsbasis: Zum einen – und darin folgt er ausdrücklich Chisholms Indeterminismus – darf eine freie Handlung nur auf den handelnden Akteur zurückführbar sein, sodass dieser die absolute Ursache der Handlung darstellt. Kane bezeichnet diese Anforderung als Ultimacy Condition[1]. Zum anderen muss eine freie Handlung jedoch auch verständlich sein, d.h. sie muss durch Gründe erklärbar sein und damit auf eine bestimmte Weise erfolgen. Kane bezeichnet diese Anforderung als Explanation Condition[2]. Beide Bedingungen stehen in Chisholms Begriff von Akteurskausalität in einem Konflikt. Wenn nämlich freie Handlungen unbedingt sein sollen, also unmittelbar einem Indifferenzzustand entspringen, dann, so Kanes Diagnose, sind diese grundsätzlich unverständlich, was die Explanation Condition verletzt.[3] Eine Theorie von Akteurskausalität, wie sie etwa von Immanuel Kant vertreten wurde, muss auf ontologisch problematische „extra (or special) factors“ wie etwa „noumenal selves“ rekurrieren, die epistemisch nur schwer zugänglich sind.[4] Angesichts dieses Problems stellt die Frage, wie ein Freiheitsbegriff entwickelt werden kann, der beiden Anforderungen gleichermaßen Genüge tut.

Kane bezeichnet seine Position, die beide Bedingungen erfüllen soll, als „kausalen Indeterminismus“ (causal indeterminism).[5] Im Zuge seiner Transformation des Begriffs absoluter Spontaneität setzt Kane an einer veränderten Bewertung primärer Willenstendenzen an. Kane hat einen Willen vor Augen, der durch zwei gleichstarke Motive gespalten ist.[6] Als Beispiel dient ihm eine Geschäftsfrau, die zu einem dringenden Termin eilt, weil davon für ihr privates Weiterkommen viel abhängt, auf dem Weg jedoch eine verletzte Person bemerkt, der sie ebenfalls helfen möchte. Wie auch immer die Entscheidung angesichts der vollständigen Alternative beider Bestimmungsgründe ausfällt, sie geht auf den – wenn auch durch unterschiedliche Motive gespaltenen – eigenen Willen der Person zurück. Beide Triebfedern inklinieren den Willen nur, nezessitieren ihn aber nicht, wodurch Kane einen differenzierten Begriff von negativer Freiheit entwickeln kann.

Zu zeigen ist nun allerdings, wie genau die Willensentscheidung im Sinne positiver Freiheit gedacht werden kann. Der gespannte Zustand des Indeterminismus erscheint nach Kane auf Grund des fehlenden Übergewichts zur einen oder anderen Seite und dem sich daraus ergebenden Äquilibrismus zunächst als eine Art Hindernis (obstacle) der unmittelbaren Entscheidung, welches jedoch kein äußeres, sondern ein inneres im Sinne einer willentlichen Selbsthemmung ist.[7] Ein solcher in sich differenzierter Gleichgewichtszustand stellt sich nach Kane jedoch gerade als Ermöglichungsgrund positiver Freiheit heraus, insofern er durch die negative Freiheit des Gleichgewichts inklinierender Willenstendenzen erster Stufe die Ausbildung von Volitionen zweiter Stufe ermöglicht, die sich reflexiv auf diese beziehen: „[B]y being a hindrance to the realization of some of our purposes, indeterminism paradoxically opens up the genuine possibility of pursuing other purposes – of choosing or doing otherwise in accordance with, rather than against, our wills (voluntarily) and reasons (rationally).“[8] Diese Komplexität des durch konfligierende Wünsche in einen äquilibristischen Zustand versetzten Willens ist nach Kane geradezu notwendig für die Eröffnung alternativer Möglichkeiten und die Selbstformierung der Persönlichkeit durch „self-forming actions“[9]. Eine Auflösung des Gleichgewichts von Volitionen erster Stufe kann nur durch einen willentlichen Überwindungsaufwand dieses Hindernisses erfolgen, der sich der Ausbildung von Volitionen zweiter Stufe verdankt.

Egal für welchen möglichen Bestimmungsgrund sich die Person schließlich durch den subjektiven Aufwand (effort) ihrer Kräfte auf Basis von Volitionen zweiter Stufe aus Indifferenz heraus entscheidet – die Entscheidung wird, so Kanes Argumentation, nicht völlig grundlos ausfallen, da immer einem der beiden primären und bekannten Willenstendenzen nachgegeben wird, mit der sich die Person zuvor – wenn auch nur partiell – identifiziert hatte. Der Entscheidungsaufwand kann damit als zugleich determiniert und indeterminiert angesehen werden: Aus der Perspektive von Willenstendenzen erster Stufe erscheint die Freiheitsentscheidung als determiniert, während aus der Perspektive von Volitionen zweiter Stufe der Willensakt unbestimmt erfolgt.[10] Auf Basis von Willenstendenzen erster Stufe ist damit die Explanation Condition erfüllt: Die Handlung erfolgt anlässlich bzw. auf Basis von bestimmten inklinierenden Motiven und Einstellungen einer bestimmten Person, die sich auf der Ebene von Willenstendenzen erster Stufe psychologisch oder physikalisch beschreiben lassen.[11] Auf Basis von Volitionen zweiter Stufe ist hingegen die Ultimacy Condition erfüllt: Die Entscheidung erfolgt aus absoluter Spontaneität. Der personale Wille ist zwar gespalten, doch handelt es sich immer noch um ein und dieselbe Person, die sich gleichermaßen mit beiden Wünschen identifiziert.[12]

Wie kann jedoch das ‚Komplement‘ der Volitionen zweiter Stufe näher bestimmt werden, welches die inklinierenden Willenstendenzen schließlich zu handlungswirksamen kürt? Kane versteht seinen Begriff eines reflektierten Indeterminismus als kompatibel mit einer Form von „nondeterministic or probabilistic causation“, wie etwa Quantenzustände im menschlichen Gehirn,[13] die nur eine Form von „deterministic causation“ ausschließen, jedoch nicht jegliche kausale Verursachung schlechthin.[14] Wie lässt sich eine solche „nondeterministic or probabilistic causation“ aber gemäß der Explanation Condition verstehen? Kane begreift eine derartige Entscheidung in Form einer „nondeterministic or probabilistic causation“ als Initiierung einer besondere Art von offenem willentlichem Experiment (value experiment)[15]. Ein solches Experiment gehorcht der Logik einer „probabilistic causation“, was bedeutet, dass eine Freiheitsentscheidung nicht durch die Vergangenheit eindeutig festgelegt sein muss, sondern sich nur an diese, im Sinne einer wahrscheinlichen Verzweigung, auf konsistente und kohärente Weise anknüpfen lässt.[16] Diese Anknüpfung ist nicht als eindeutige Verursachungsrelation zu verstehen, sondern als eine Art von narrativer Kontinuität, einem voluntativen ‚Fortspinnen‘, derart, dass eine solche Anknüpfung angesichts der vergangenen Zustände im Urteil des Akteurs als sinnvoll, verständlich und zweckmäßig erscheint.[17]

In diesem Zusammenhang rekurriert Kane explizit auf die Tradition des liberum arbitrium voluntatis, dem, wie er es übersetzt „free judgment of the will“:

Imagine a writer in the middle of a novel. The novel’s heroine faces a crisis and the writer has not yet developed her character in sufficient detail to say exactly how she will act. The author makes a “judgment” about this that is not determined by the heroine’s already formed past, which does not provide unique direction. In this sense, the judgment (arbitrium) of how she will react is “arbitrary,” but not entirely so. It had input from the heroine’s fictional past and in turn gave input to her projected future.[18]

Willensfreie Personen sind demnach „‘arbiters’ of their own lives”, die sich im willentlichen Urteil aus der Unbestimmtheit heraus selbst erst formieren. „Arbiträr“ meint in diesem Zusammenhang nicht bloße Beliebigkeit und ‚Willkürlichkeit‘ im schlechten Sinne, sondern einen Entscheidungsprozess durch Urteilskraft. Die willensfreie Person besitzt daher immer einen „unfinished character“[19], der sich im Prozess des bestimmten Urteilens formiert.

Literatur

Kane, Robert (1989): Two Kinds of Incompatibilism. In: Philosophy and Phenomenological Research 50, 219-254.

– (1998): The Significance of Free Will. New York/Oxford.

– (2003): Free Will: New Directions for an Ancient Problem. In: Ders. (Hrsg.): Free Will. Malden, MA, 222-246.

[1] Vgl. Kane (1989), 226: „The free action for which the agent is ultimately responsible is such that its occurring rather than not here and now, or vice versa, has as its ultimate or final explanation the fact that it is caused by the agent here and now.“

[2] Kane (1989), 225 f.: „A free action for which the agent is ultimately responsible is the product of the agent, i.e. is caused by the agent, in such a way that we can satisfactorily answer the question ‚Why did this act occur here and now rather than some other?‘ (whichever occurs) by saying that the agent caused it to occur rather than not, or vice versa, here and now.“

[3] Vgl. Kane (1989), 227.

[4] Kane (2002), 415.

[5] Kane (2003), 239.

[6] Vgl. Kane (2003), 229 f. u. 230: „[T]he indeterminism thus arising from a tension-creating conflict in the will“.

[7] Kane (2003), 235.

[8] Vgl. Kane (2003), 235 f.:

[9] Kane (2003), 225.

[10] Vgl. Kane (2003), 232: „One must think of the effort and the indeterminism as fused; the effort is indeterminate and the indeterminism is a property of the effort, not something separate that occurs after or before the effort.“

[11] Kane (2003), 237, begreift unter solchen Willensanstrengungen u.a. „deliberations, beliefs, desires, intentions“.

[12] Vgl. Kane (2003), 225: „They [the agents; J.N.] are, as we say, of two minds. Yet they are not two separate persons.“

[13] Vgl. Kane (2003), 238: „[C]onflicts in the wills of agents associated with self-forming choices would ‚stir up chaos‘ in the brain, sensitizing it to quantum indeterminacies at the neuronal level, which would then be magnified to effect neural networks as a whole. The brain would thus be stirred up by such conflict for the task of creative problem solving.“ (238) Zu einem anderen Quanten-Beispiel vgl. Kane (1989), 236.

[14] Vgl. Kane (2003), 232: „Indeterminism is consistent with nondeterministic or probabilistic causation, where the outcome is not inevitable. It is therefore a mistake (alas, one of the most common in debates about free will) to assume that ‚undetermined‘ means ‚uncaused‘.“ (232) „Self-forming choices are undetermined, but not uncaused. They are caused by the agent’s efforts.“ (234)

[15] Kane (1998), 145.

[16] Als Beispiel führt Kane die narrative Kontinuität einer noch nicht gänzlich etablierten Romanfigur an, über deren Zukunft der Autor auf Basis ihrer bisherigen (unvollständigen) Geschichte entscheiden muss. Vgl. Kane (2003), 236: „Let’s try this. It is not required by my past, but it is consistent with my past and is one branching pathway my life can now meaningfully take. Whether it is the right choice, only time will tell. Meanwhile, I am willing to take responsibility for it one way or the other [Hervorh. J.N.].“

[17] Kane (1998), 146, gebraucht dafür die Kategorie einer „teleological or narrative intelligibility“.

[18] Kane (2002), 425.

[19] Kane (2002), 425.