Zusammenfassung: Aristoteles über Tugend als moralische Motivation

Wir können Aristoteles‘ Begriff der Tugend als Habitus im Sinne von moralischer Motivation verstehen. Aristoteles bestimmt die Tugend als „rechte Mitte“ (méson) zwischen zwei Extrempositionen. Als Beispiel führt er die Mäßigkeit als Mitte zwischen Zügellosigkeit und Stumpfsinn und den Starkmut als Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit an. Was die rechte Mitte ist, das ist mit Blick auf Gegenstände (mesón tou prágmatos) das arithmetische Mittel (méson kata ten arithmetikén). Mit Blick auf (pros hemas) uns ist es die rechte Mitte zwischen Übermaß und Mangel, und diese Mitte hängt von uns je individuell ab.

Aristoteles betont, dass die sittlichen Tugenden durch Gewöhnung gebildet werden und wir sie nicht von Natur aus besitzen. Tugenden sind also Produkte eines Bildungsprozesses, der Erfahrung voraussetzt. Aristoteles betont, dass dieser Bildungsprozess schon in jungen Jahren beginnen sollte. Er vergleicht die Herausbildung der ethischen Tugenden mit der Praxis von Künsten wie dem Zitherspielen und der Baukunst, die ebenfalls viel Übung und Erfahrung benötigen. Aristoteles betont, dass die sittliche Tugend immer mit Lust oder Unlust verbunden ist und es darauf ankommt, im Laufe der Zeit Lust an tugendhaften Handlungen zu erlangen.

Im Rahmen seiner Moralpsychologie unterscheidet Aristoteles zwischen Affekten (páthos, Pl. pathé), Vermögen (dýnamis, Pl. dýnamai) und Habitus (héxis). Zu den Affekten zählt er die Begierde (epithymía), Zorn (orgé), Furcht (phóbos), Zuversicht (thársos), Neid (phtónos), Freude (charis), Liebe (philía), Haß (mísos), Sehnsucht (póthon), Eifersucht (zélon) und Mitleid (éleos), d.h. „überhaupt alles, was mit Lust (hedoné) und Unlust (lýpe) verbunden ist“. Unter einem Vermögen versteht Aristoteles „das, was uns für diese Gefühle empfänglich macht“ bzw. als Empfindungsbefähigung. Man könnte Vermögen auch im Sinne einer Affinität oder Sensibilität für etwas verstehen, im Sinne einer Bedingung der Möglichkeit ihrer Wahrnehmung. Ein Habitus ist schließlich dasjenige, „was macht, daß wir uns in bezug auf die Affekte richtig oder unrichtig verhalten“. Daher versteht Aristoteles Tugenden (aretaí) und Laster (kakíai) als Habitus. Er betont, dass wir nicht wegen der Affekte als solchen tugendhaft oder lasterhaft werden, sondern wegen unserem Verhältnis dazu, d.h. wegen der Art und Weise, d.h. der Form, in der wir diese Affekte ausbilden. Wir können nur wegen unserer Tugenden oder Laster gelobt oder getadelt werden. Tugenden und Laster verhalten sich also von einer Metaebene zu den Affekten. Tugenden und Laster sind „Akte der Selbstbestimmung“ (proháiresis) und können nicht ohne Selbstbestimmung gedacht werden. Zwar werden wir von einer Objektebene aus von den Affekten unmittelbar bewegt, aber von einer Metaebene durch die Tugenden und Laster nicht bewegt, sondern in eine „bestimmte Disposition“ (diakéimai) gegenüber den wechselnden Affekten gebracht. Aristoteles versteht Tugenden als spezifische Formen des Gut-Seins. Was „gut“ ist, hängt davon ab, wer oder was gut ist. Die Tugend des Auges ist sein gutes Sehvermögen, die Tugend des Pferdes ist seine Bewegungsfähigkeit, die Tugend des Menschen ist „ein Habitus sein, vermöge dessen er selbst gut ist und sein Werk gut verrichtet“. Aristoteles bezeichnet die ethische Tugend als einen „Habitus des Wählens“ (héxis prohairetiké), der nach der Vernunft bestimmt wird (héxis horisméne logô) und zwar so, wie es eine kluge Person (phrónimos) tut. Die Tugend ist als trotz der darin realisierten Mitte nicht einfach ein bloßes „Mittelmaß“, sondern das Beste (aristón) und das Äußerste (akrótes), markiert also von einer Metaebene aus ein normatives Ende, von dem aus die Affekte auf der Objektebene bewertet werden.

Aristoteles betont, dass wir nicht mit Blick auf alle Affekte (páthos) und Handlungen (práxis) die rechte Mitte bilden können. Affekte wie „Schadenfreude, Schamlosigkeit und Neid“ und Handlungen wie „Ehebruch, Diebstahl und Mord“ sind intrinsisch schlecht und nicht durch ihr „Zuviel und Zuwenig“.

Aristoteles‘ Theorie der ethischen Tugend erfüllt also die Rationalitäts- und die Bewegungsanforderung für moralische Motivation. Indem er Affekte zur Objektbasis wählt, kann er sicherstellen, dass unsere unmittelbare Emotionalität und Körperlichkeit in die moralische Handlung integriert werden. Indem er diese Affekte durch Vernunft und Selbstbestimmung reflektieren lässt, berücksichtigt er zudem die Rationalitätsanforderung.