Zusammenfassung: Fichte über das Böse

Fichte knüpft an Kants Moralphilosophie, insbesondere seine Theorie des (radikal) Bösen an, entwickelt diese aber in entscheidenden Punkten weiter. Kant hatte die These vertreten, dass eine boshafte Vernunft, die das Böse um des Bösen Willen befiehlt, nicht auf den Menschen anwendbar ist. Der Mensch, so Kant, rebelliert nicht gegen das Sittengesetz (anders als Augustinus in seinem Birnendiebstahl), sondern nimmt es immer schon – wenn auch zusammen mit den Neigungen – in seine Maxime, d.h. seinen individuellen Willen – mit auf (6:35). Böse Taten vollziehen sich nach Kant immer angesichts der absoluten Forderung des Sittengesetzes, die Kant auch als „Faktum der Vernunft“ bezeichnet. Wir sehen immer das Sittengesetz vor unserem geistigen Auge, vernehmen seinen kategorischen Imperativ, und können nur, indem wir vernünfteln, Ausnahmen davon gestatten. Dennoch stellt sich die Frage, wie wir angesichts des Sittengesetzes gegen sein Gebot verstoßen können, ohne dagegen direkt zu rebellieren, sondern uns in unserer Zuwiderhandlung scheinbar im Sinne des Sittengesetzes gerechtfertigt zu sehen.

Wie Kant, so betont auch Fichte, dass das Böse „im Menschen seinen Grund in der Freiheit“ hat (4:183). Und wie Kant, so ist auch Fichte der Ansicht, es sei „schlechthin unmöglich und widersprechend, dass jemand, bei dem deutlichen Bewusstsein seiner Pflicht im Augenblick des Handelns, mit gutem Bewusstsein, sich entschließe, seine Pflicht nicht zu tun; dass er gegen das Gesetz sich empörend ihm den Gehorsam verweigere, und es sich zur Maxime mache, nicht zu tun, was seine Pflicht ist, darum weil es seine Pflicht ist“. Eine solche Maxime wäre nach Fichte „teuflisch“, und sie wäre nicht nur nicht auf den Menschen anwendbar, sondern würde sich logisch-begrifflich selbst aufheben (4:191). Wir können uns nach Fichte nicht mit „gutem Bewusstsein“ gegen unsere Pflicht entschließen. Unser Willensvermögen würde sich darin selbst widersprechen. Wir können nicht angesichts des Sittengesetzes gegen das Sittengesetz handeln. Allerdings ist es nach Fichte möglich, dass der Mensch „das klare Bewusstsein der Anforderung der Pflicht ins ich verdunkle“. Fichte erklärt die Verdunkelung des Sittengesetzes dadurch, dass wir den Zustand der Autonomie – also des Uns-das-Sittengesetz-Gebens – permanent aufrechterhalten müssen. Damit unterscheidet er sich von Kants Theorie des Faktums der Vernunft, nach welchem sich das Sittengesetz uns ohne unser willentliches und aktives Zutun von selbst aufdrängt. Wir sind also durch unsere spontane Reflexion nach Fichte selbst dafür verantwortlich, ob und wie wir uns das Sittengesetz autonom geben. Wenn wir nicht mehr autonom durch Reflexion uns das Sittengesetz geben, dann verschwindet es auch vor unserem geistigen moralischen Auge.

Wir können also nur dann gegen die Forderung des Sittengesetzes handeln, wenn wir es nicht oder nur schwach durch unsere Reflexion in uns repräsentieren. Die Repräsentation des Sittengesetz – nicht aber das Sittengesetz selbst – hängt von unserer Freiheit ab. Das Sittengesetz ist nach Fichte (und anders als nach Kant) „gar nicht so etwas […], welches ohne alles Zutun in uns sei“. Vielmehr wird es „durch uns selbst gemacht“. Es hängt also von unserer Freiheit ab, „ob jenes Bewusstsein fortdauere, oder sich verdunkle“. Wie Kant, der argumentiert hatte, dass „der erste subjective Grund der Annehmung moralischer Maximen unerforschlich sei“ (6:21), so argumentiert auch Fichte, dass der „Akt der Freiheit“, durch welchen das Sittengesetz in uns verdunkelt wird, „ein absolut erster und darum unerklärlicher Akt“ sei. Die Verdunkelung des Sittengesetzes erfolgt nicht auf Grund einer Maxime, denn dies würde ja bedeuten, dass wir bei klarem Bewusstsein das Sittengesetz verdunkeln würden, was nach Fichte ja ein begrifflicher Widerspruch wäre: „Es geschieht schlechthin, weil es geschieht; schlechthin ohne einen höheren Grund“. Freilich könnte man einen Grund dafür wie bei Augustinus in der Zumutung des Sittengesetzes sehen, die unsere individuelle Freiheit einschränkt. Nach Fichte verdunkeln wir das Sittengesetz durch Abstraktion, d.h. durch verdunkelnde Reflexion auf seine absolute Forderung, was in ein „unbestimmte[s] Denken“ mündet. Fichte betont, dass es unsere moralische Pflicht ist, ein bestimmtes Bewusstsein unserer Pflicht zu entwickeln (gewissermaßen eine Meta-Pflicht). Nach Fichte unterliegen wir im Bösen einer Selbsttäuschung, einem „sehr gefährliche[n] Selbstbetrug“, doch „dieser Irrtum ist und bleibt unsere Schuld“. Es geht darum, dass wir an der Einsicht in unsere Pflicht aktiv „festhalten“, und dieses Festhalten oder Loslassen durch Reflexion kann uns nach Fichte selbst moralisch zugerechnet werden, da es einen Prozess darstellt. Besonders problematisch ist nach Fichte eine Einstellung gegenüber dem Sittengesetz, die „frech vorgibt, man könne nicht so leben, wie es das Sittengesetz verlange; die pünctliche Ausübung desselben sey unmöglich“ (4:196). Dies wird in der aktuellen Debatte das Problem der moralischen Überforderung genannt: Wir argumentieren nach Fichte, dass das Sittengesetz unmenschlich und nicht realistisch sei, so dass wir uns ihm in manchen Belangen willkürlich entziehen und uns darin mit Verweis auf die angebliche Menschlichkeit gerechtfertigt sehen.

In Anknüpfung an Leibniz bestimmt Fichte das radikale Böse als „ursprüngliche Trägheit zur Reflexion“. Wir setzen dem Guten, d.h. der Forderung des Sittengesetzes, einen Widerstand entgegen, der in einer Trägheit der Reflexion mündet. Fichte bezeichnet diese Trägheit, sofern sie uns zur Lebensform geworden ist, auch als „Schlendrian“.