Zusammenfassung: Fichte über Vernunft und Freiheit

Fichte knüpft in seinem System der Sittenlehre an Kants Begriff der Vernunft an. Die Vernunft ist nach Kant nicht nur ein passives, rezeptives Vermögen, und auch nicht, wie in der empiristischen Tradition, z.B. bei David Hume, eine bloße „Dienerin der Affekte“. Vielmehr vermag sie, als praktische Vernunft spontan Zwecke zu setzen, gar ein Gefühl – das moralische Gefühl der Achtung – zu bewirken und sich so gegen bloß empirische Neigungen durchzusetzen. Als theoretische Vernunft bzw. als Verstand strukturiert sie nach Kant unsere Erfahrungswirklichkeit nach Kategorien wie Kausalität, Substanzialität, Qualität und Quantität. Fichte denkt diese Spontaneität und Aktivität, aber auch die Einheit der Vernunft in ihrer theoretischen und praktischen Wirkungsweise, noch stärker als Kant es tut. Fichte versteht die Vernunft als handelnd, und darin als selbst-reflexiv und endlich. In praktischer Hinsicht führt die Vernunft zu einem Wollen und normativen Sollen – sie setzt konkrete Zwecke – und bewirkt damit eine Handlung. Dabei unterliegt die praktische Vernunft ihrem Sittengesetz, von dem sie aber, wie Fichte betont, sehr wohl auch abweichen kann, da sie frei ist. In theoretischer Hinsicht unterliegt die aktive Vernunft dem deskriptiven Denkgesetz – also der (transzendentalen) Logik –, gegenüber dem sie aber nicht frei ist. Rationalität besteht im Befolgen von Denkgesetzen, während Freiheit gerade auch im Handeln gegen das Sittengesetz bestehen kann. Fichte geht so weit, Philosophie als solche von der Realität der Autonomie der Vernunft abhängig zu machen: „Entweder, alle Philosophie muß aufgegeben, oder die absolute Autonomie der Vernunft muß zugestanden werden. Nur unter dieser Voraussetzung ist der Begriff einer Philosophie vernünftig.“ (57) Für Fichte ist gar der Gedanke, dass die Vernunft nicht autonom, sondern heteronom – also fremdbestimmt – sei, ein selbstwidersprüchlicher Gedanke. Vernunft als solche ist immer schon autonom.

Es geht Fichte nun darum, dass wir aus unserem Ich bzw. dem Selbstbewusstsein oder der Vernunft die Realität von Dingen außer uns deduzieren, die freilich immer auch Dinge für uns sind, was er auch die „Welt unseres Bewußtseins“ nennt. Fichte stellt sich also die Frage, welche „Denkweise“ dem Realitätsbegriff zugrunde liegt. Die Realität eines Begriffs bedeutet für Fichte, „wie und auf welche Weise durch ihn Objekte bestimmt werden“. Der Begriff der Kausalität hat insofern Realität, als durch ihn zwischen den Objekten des Bewusstseins ein „bestimmter Zusammenhang“ gestiftet wird, der dem Gesetz von Ursache und Wirkung folgt. Der Begriff des Rechts hat insofern Realität, als wir darin durch andere freie Subjekte, die uns entgegentreten, in unserer Freiheit beschränkt werden. Aus dieser rechtlichen Beschränkung von mir durch andere freie Subjekte entsteht die Realität einer intersubjektiven Gemeinschaft. Nach Fichte hat der Begriff der Sittlichkeit insofern Realität, als er „rein aus dem Wesen der Vernunft“ (deduktiv) hervorgeht, ohne empirische Einflüsse. Entscheidend ist dabei aber, dass der Begriff der Sittlichkeit ein normativer Begriff ist, also ein Objekt bezeichnet, welches erst realisiert werden soll.

Realität ist insofern für Fichte nichts unabhängig von unserem Selbstbewusstsein Bestehendes, sondern etwas, was sich nur durch das Selbstbewusstsein bestimmen lässt: „Realität, deren Grund ein Begriff ist, nennt man ein Produkt der Freiheit.“ Daher gibt es nach Fichte auch keine „Natur an sich“, also unabhängig von meinem Selbstbewusstsein. Die Natur ist vielmehr „eine besondere Weise, mich selbst zu erblicken“, und sie resultiert aus einer Selbstbeschränkung meines Triebs zur Existenz. Fichte unterscheidet das Selbstbewusstsein in das Reflektierende und das Reflektierte. Beide sind im Grunde eins, wobei Reflexion nach Fichte nicht bloß passives Zusehen bedeutet, sondern ein aktives Bezugnehmen auf sich selbst. Nach Fichte stiftet das Reflektierte, also unser Existenztrieb bzw. unsere gegebene Natur, die „reelle Kraft“, während das Reflektierende „das Bewußtsein in die Person“ bringt.

Fichte grenzt unsere freie Selbstbestimmung von der Fremdbestimmung des Naturgesetzes ab. Während in der „Naturreihe“ alles vorherbestimmt ist, etwa nach dem Gesetz des Mechanismus, ist dasjenige, was aus dem Ich folgt, nach Fichte „schlechterdings unbestimmbar“: „Es gibt kein Gesetz, nach welchem freie Selbstbestimmungen erfolgten, und sich vorhersehen ließen; weil sie abhangen von der Bestimmung der Intelligenz, diese aber als solche schlechthin frei, lautere reine Tätigkeit ist.“ Hier stellt sich freilich die Frage, ob Freiheit nach Fichte ein bloß indeterministisches und indifferentes Geschehen ist. Während nach Fichte eine Naturreihe wie eine mathematische Funktion zu verstehen ist, die in jedem Punkt stetig und differenzierbar ist, so besteht eine „Reihe aus Freiheitsbestimmungen“ nach Fichte „aus Sprüngen, und geht gleichsam ruckweise“, ist also stetig, aber nicht differenzierbar. Der Grund dafür besteht darin, dass aus einem beliebigen Zustand A der Freiheitsreihe ganz Verschiedenes folgen kann: „Es mag von A aus gar mancherlei möglich sein: aber nicht alles mögliche, sondern nur der bestimmte Teil desselben = X erfolgt.“ Während sich in einer Naturreihe alles deterministisch erklären lässt, ist dies in der Freiheitsreihe nicht möglich, „denn jedes ist ein erstes und absolutes“. In der Freiheitsreihe gilt nicht das Gesetz der deterministischen Kausalität, sondern der Substantialität: jeder freie Entschluß ist selbst substantiell, er ist, was er ist, absolut durch sich selbst“.