Zusammenfassung: Fichtes „System der Sittenlehre“ – Einleitung

Fichte hat sein „System der Sittenlehre“ ausdrücklich „nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre“ entworfen. Dies bedeutet, dass dabei der „Grundsatz“ des Selbstbewusstseins eine zentrale, fundierende Rolle spielt. Die Wendung „Grundsatz“ lässt sich hier doppelt verstehen. Einmal im Sinne des sprachlichen Satzes und seiner propositionalen Struktur, die ein Subjekt mit einem Prädikat verbindet. Ferner aber auch im Sinne des „Setzens“ eines „Grundes“, und zwar durch das Selbstbewusstsein selbst. Das Selbstbewusstsein wird hier unter dem Aspekt des praktischen Selbstbewusstseins betrachtet, d.h. hinsichtlich seines Wollens und Wirkens. Bereits Descartes hatte in seinen Meditationen das Selbstbewusstsein als res cogitans im Sinne des theoretischen und praktischen Selbstbewusstseins bestimmt: „ein Ding, das zweifelt, versteht, behauptet, verneint, will, nicht will, und das sich auch etwas einbildet und empfindet.“

Es stellt sich die Frage, wie Fichte aus diesem theoretischen und praktischen Selbstbewusstsein apriorisch und synthetisch sein System der Ethik deduzieren kann. Diese Deduktion ist freiheitstheoretisch motiviert: Fichte möchte, dass sein System gegen den Zweifel immun ist und dass er in der Begründung seiner Ethik autonom, also nicht auf empirische Erfahrung angewiesen ist. Fichte argumentiert, dass die Wissenschaftslehre durch ihren Grundsatz des Selbstbewusstseins noch fundamentaler ist als die formale Logik. Der Grund besteht darin, dass die Wissenschaftslehre im Gegensatz zur Logik apriorisch und zugleich material ist. Die Logik besteht in deduktiven Ableitungsbeziehungen, die zwar apriorisch sind, jedoch keine Inhalte setzt, sondern von diesen hypothetisch abhängig ist. Fichte betrachtet dazu die Identitätsaussage „A = A“. Diese logische Beziehung sagt nur, dass wenn A gesetzt ist, auch A gesetzt ist. Hier stellt sich jedoch die Frage, ob A gesetzt ist, und warum A gesetzt ist, d.h. die Frage nach dem ontologischen und epistemologischen Grund. Diese Fragen hingegen beantwortet der Satz „Ich bin Ich“. Denn ich bin immer schon existent, sofern ich denke, und ich existiere im Selbstbewusstsein durch mich selbst (dies sollte Sören Kierkegaard später in Frage stellen, indem er darauf verwies, dass das Selbstbewusstsein sich immer auf seinen Grund beziehen muss, der nicht mit ihm identisch ist).

Gleich in der Einleitung zu seinem „System der Sittenlehre“ bemerkt Fichte, dass unser Selbstbewusstsein bzw. Ich einen Einheitspunkt des Subjektiven und Objektiven darstellt. Fichte bezeichnet unser Selbstbewusstsein auch als „Ich“, „Intelligenz“ oder „Vernunft“. Damit scheint Fichte aussagen zu wollen, dass Selbstbewusstsein immer Rationalität impliziert, insofern ich mir als ich selbst bewusst werde, d.h. ich mich auch selbst als solches erkenne. Fichte argumentiert, dass wir nur auf diese ursprüngliche „absolute“ Identität von Subjekt und Objekt schließen können, oder besser gesagt: dass wir diese Identität im Sinne eines transzendentalen Arguments voraussetzen müssen, damit wir überhaupt theoretisches Erkennen und praktisches Handeln synthetisch-apriorisch begründen können. Denn die theoretische Philosophie untersucht, wie es möglich ist, dass wir unsere Subjektivität an ein Objekt annähern, wie wir objektives Wissen erkennend erlangen können, und die praktische Philosophie untersucht, wie wir ein Objekt aus der Subjektivität (d.h. einen Zweck und eine Handlung) wirkend entwickeln können. Die absolute Identität des Subjekts und Objekts ist aber auch deswegen nicht unmittelbar erfahrbar, sondern nur erschließbar, weil im Selbstbewusstsein immer Subjekt und Subjekt-Objekt auseinandertreten und getrennt werden. Die deduktive Entwicklung des Bewusstseins erfolgt nach Fichte nicht willkürlich, sondern folgt notwendigen Gesetzen, die apriorisch und synthetisch verfasst sind.

Fichte versteht die praktische Philosophie der Sittenlehre als „System des notwendigen Denkens“, d.h. des apriorisch-synthetischen Philosophierens, welches deduktiv nachweisen soll, „daß mit unseren Vorstellungen ein Sein übereinstimme, und daraus folge“ (2). Praktisches Selbstbewusstsein ist die Basis der praktischen Philosophie: „das Subjekt des Bewußtseins, und das Prinzip der Wirksamkeit sind Eins“ (3). Das praktische Wissen wird hier nicht erlangt, sondern selbst „gesetzt“, und zwar im Sinne des „Grundsatzes“: „Demnach, sowie ich überhaupt nur weiß, weiß ich, daß ich tätig bin. In der bloßen Form des Wissens überhaupt ist das Bewußtsein meiner selbst, und meiner selbst, als eines tätigen, enthalten, und dadurch unmittelbar gesetzt.“ (4)

Fichte argumentiert, dass wir die Tatsache einer Wirkung in der Außenwelt, die nicht mehr nur auf unser (praktisches) Selbstbewusstsein bezogen ist, aus unserem praktischen Selbstbewusstsein ableiten können – wenn nicht unmittelbar, so doch über verschiedene Deduktionsschritte. Fichtes idealistische Grundthese lautet: „Wissen, und Sein sind nicht etwa außerhalb des Bewußtseins und unabhängig von ihm getrennt, sondern nur im Bewußtsein werden sie getrennt, weil diese Trennung Bedingung der Möglichkeit alles Bewußtseins ist; und durch diese Trennung entstehen erst beide.“ Das Bewusstsein ist also die Bedingung der Möglichkeit der Differenz von Subjekt und Objekt, von Wissen und Sein.

Fichte argumentiert, dass eine bestimmte Tätigkeit darin besteht, dass ihr ein Widerstand entgegengesetzt wird. Tätigkeit kann nur Tätigkeit an etwas Bestimmtem sein. Dieses Widerstands-Bewusstsein der Tätigkeit ist kein unmittelbares, sondern nur ein vermitteltes Bewusstsein.

Fichte charakterisiert das kantische Sittengesetz, wie es durch den kategorischen Imperativ und das „Faktum der Vernunft“ ausgedrückt ist, als eine „Zunötigung“ bzw. Aufforderung (z.B. des Gewissens), die darin besteht, „einiges ganz unabhängig von äußeren Zwecken, zu tun, schlechthin, bloß und lediglich, damit es geschehe; und einiges, ebenso unabhängig von Zwecken außer ihm, zu unterlassen, bloß und lediglich, damit es unterbleibe.“ (13) Nun besteht nach Fichte die Aufgabe darin, die Genese und den Grund dieser Zunötigung zu erkennen. Fichte argumentiert, dass diese moralische Notwendigkeit aus dem absoluten Prinzip der Ichheit abgeleitet werden muss. Indem wir diese Zunötigung aus dem Selbstbewusstsein bzw. Ich deduzieren, betreiben wir nach Fichte eine „Wissenschaft der Moralität“. Hier wird der Unterschied zu Kants Begründung der Geltung des Sittengesetzes deutlich, die auf rein auf formalen und rationalen Verhältnissen beruht, nicht jedoch auf dem Prinzip der Subjektivität, welche Fichte wiederum im Sinne der Vernunft versteht. Fichte betont, dass wenn wir die Gründe der moralischen Zunötigung einsehen, wir dennoch keine Freiheit haben, diese zu verändern, da sie in unserer „unveränderliche[n] Natur“ liegen. Sittenlehre ist deswegen nach FichteTheorie des Bewußtseins unserer moralischen Natur überhaupt, und unserer bestimmten Pflichten insbesondere“ (15). Fichte wendet sich gegen den naheliegenden Einwand, er wolle „aus Gedanken etwas Wirkliches herleiten“ und „aus der Region des Denkens in die davon ganz unterschiedene Region des wirklichen Seins übergehen“ (16 f.). Dagegen wendet Fichte ein, dass es seiner Transzendentalphilosophie nicht darum geht, ein „Sein an sich“ unabhängig vom Bewusstsein zu begründen, sondern dass Sein, Realität und Objektivität immer nur durch Bezug auf Selbstbewusstsein überhaupt Bedeutung hat. Fichte bestimmt in diesem Sinne Realität als etwas, was sich „uns mit unmittelbarer Notwendigkeit aufdringt, und dadurch das Prädikat der Realität, der Wahrnehmbarkeit, erhält“ (17). Fichte beschreibt sein System der Ethik als ein auf dem Selbstbewusstsein bzw. ich „aufzubauendes Moralsystem“, welches im Sinne eines „notwendigen Bewusstseins“ deduziert bzw. abgeleitet wird.