Zusammenfassung: Schopenhauer über Mitleid

Schopenhauer wie auch Kant fassen das Prinzip moralischer Motivation als das Kernprinzip ihrer Ethik auf. Sowohl Kant als auch Schopenhauer behaupten, dass das von ihnen identifizierte Moralprinzip das einzig wahre sei. Nach Schopenhauer ist nur das Mitleid geeignet, unseren Egoismus zu überwinden und uns mit deinem anderen Wesen moralisch zu verbinden, uns mit ihnen so zu identifizieren, dass wir uns um sie moralisch kümmern. Mitleid ist deshalb nach Schopenhauer der eigentliche moralische Grund einer Handlung. Schopenhauer kritisiert, dass nach Kant der Grund für moralisches Handeln im bloß formalen Maximentest bzw. „aus abstrakten, zum Theil selbst spitzfindigen Sätzen bestehe[], ohne anderes Fundament, als eine künstliche Begriffskombination.“ Dagegen argumentiert Schopenhauer, dass dieses abstrakte Testverfahren nicht ausreichend ist, um uns zu moralischen Handlungen zu motivieren. Das Mitleid ist nach Schopenhauer das moralisch „reinste Motiv“, welches das „Fundament der Moral“ darstellt. Dem Mitleid entgegengesetzt ist die Grausamkeit, die nach Schopenhauer unseren größten moralischen Tadel provoziert. Daraus schließt er, dass diejenige Person das größte moralische Lob verdient, die aus Mitleid handelt. Seine Argumentation lässt sich folgendermaßen formalisieren:

(1) Grausamkeit ist das „gerade Gegentheil“ von Mitleid.

(2) Grausamkeit ist die moralisch schlimmste Eigenschaft/das moralische beste Motiv.

(3) Also ist Mitleid die moralisch beste Eigenschaft/das moralisch beste Motiv.

Allerdings wird Schopenhauers Kritik Kants Ethik nicht gänzlich gerecht. Denn Kant selbst hält den Maximentest alleine für nicht hinreichend für moralische Motivation. Es handelt sich dabei nur um das sogenannte „principium diiudicationis“, also das Erkenntnis- und Urteilsprinzip, aber nicht das Handlungsprinzip der Moral. Erst das moralische Gefühl der Achtung, welches der Würde des Menschen gilt, motiviert uns zu moralischen Handlungen. Auch importiert Schopenhauer versteckt kantische Terminologie in seine Mitleidsethik, wenn er etwa behauptet, dass wir allen Handlungen, die aus Mitleid entstehen, „Hochachtung“ entgegenbringen.

Nach Schopenhauer ist das Mitleid der Inbegriff aller Moralität. Er vertritt die These, dass der Satz

„Es ist ein ungerechter und boshafter Mensch; jedoch ist er sehr mitleidig“

einen begrifflichen Widerspruch in sich birgt.

Nach Schopenhauer müssen wir bei der Beurteilung von Handlungen immer berücksichtigen, wie viel Leid sie verursachen und wie viel Mitleid sie dementsprechend verdienen. Leid ist das Korrelat von Mitleid und liegt als solches in verschiedenen Stufen oder Graden vor. Schopenhauer vertritt also in Ansätzen eine konsequentialistische Mitleidsethik. So ist Diebstahl als solcher nicht aufgrund seiner bloßen Form moralisch schlecht (was Kant behaupten würde), sondern lässt sich in der moralischen Bewertung weiter differenzieren, je nachdem welcher Grad an Leid durch den Diebstahl bewirkt wurde. Demnach ist es unmoralischer, eine arme Person zu bestehlen als eine reiche, da diese weniger darunter zu leiden hat. Das Mitleid ist nach Schopenhauer ein universales Heilsprinzip. Es kann sogar die Haltung des Neides überwinden helfen, da die beneidete Person im Mitleid als sympathisch erfahren wird. Schopenhauer betont, dass der Vorteil seiner Mitleidsethik darin besteht, dass sich Mitleid nicht nur – wie die Achtung – auf vernünftige autonome Wesen bezieht, sondern auf alle leidensfähigen Wesen, also auch nichtmenschliche Tiere, und dadurch den „natürlichen Ansprüche[n] der Thierwelt“ gerecht wird. Nach Schopenhauer besteht eine „vollkommene Identität der Sache“ zwischen Menschen und anderen Tieren, die von rationalistischen Philosophen mit unlauteren Mitteln verdeckt wird. Unsere Identität mit anderen Tieren besteht nach Schopenhauer in ihrer Lebens- und damit auch Leidensfähigkeit. Das Mitleid ist eine „wundersame Anlage“ der Natur, „vermöge welcher das Leiden des Einen vom Andern mitempfunden wird“.