Zusammenfassung: Kant über das Böse

In seiner 1792/23 veröffentlichten Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft hat Immanuel Kant genauer bestimmt, was er unter dem „Bösen“ versteht. Der Mensch ist nach Kant nicht insofern böse, als er bewusst gegen das Sittengesetz verstößt, also den Verstoß selbst zum Motiv hat: „Der Mensch (selbst der ärgste) thut, in welchen Maximen es auch sei, auf das moralische Gesetz nicht gleichsam rebellischerweise (mit Aufkündigung des Gehorsams) Verzicht“ (6:36). Der Mensch handelt nicht insofern böse, dass er sich zum Ziel setzt, „das Böse als Böses zur Triebfeder in seine Maxime aufzunehmen“ (6:37). Hierin unterscheidet sich Kant von Augustinus. Vielmehr ist sich der Mensch „des moralischen Gesetzes bewußt und hat doch die (gelegenheitliche) Abweichung von demselben in seine Maxime aufgenommen.“ (6:32) Unter einer Maxime versteht Kant einen subjektiven Handlungsgrundsatz, eine Art Handlungsregel, die konkreten Handlungen zugrunde liegt. Wir handeln nach Kant also insofern böse, als wir uns eine subjektive Regel zu eigen machen, nach der wir uns in bestimmten Situationen Ausnahmen gegenüber dem Gebot des kategorischen Imperativs erlauben. Das Sittengesetz fordert, dass wir unsere Maximen auf ihre vernünftige Verallgemeinerungsfähigkeit überprüfen sollen. Eine unmoralische Maxime würde etwa lauten: „mein Vermögen durch alle sichere Mittel zu vergrößern“ (5:27). Aus dieser Maxime würde nach Kant folgen, dass ich einen entliehenen Gegenstand – ein Depositum – nicht mehr zurückgebe, wenn der Eigentümer vergessen hat, dass er mir diesen Gegenstand entliehen hat. Nach Kant wäre eine solche Maxime deswegen unmoralisch, da sie sich nicht vernünftig und ohne Widerspruch verallgemeinern ließe: „Ich werde sofort gewahr, daß ein solches Princip, als Gesetz, sich selbst vernichten würde, weil es machen würde, daß es gar kein Depositum gäbe.“ (5:27) Niemand würde überhaupt mehr einen Gegenstand verleihen, wenn man sein Versprechen, ihn zurückzugeben, nicht mehr halten würde. Die Idee des Verleihens und Entleihens würde sinnlos werden.

Wir neigen jedoch nach Kant immer dazu, uns diesem strengen Testverfahren zu entziehen. Wir neigen dazu, unsere Maximen so zu wählen, dass wir unsere Individualinteressen gegenüber der strengen Geltung des Sittengesetzes auf angenehme Weise durchsetzen können, und dabei zugleich unser Gewissen beruhigen können. Kant spricht von einer „Tücke des menschlichen Herzens“, die darin besteht, „sich wegen seiner eigenen guten oder bösen Gesinnungen selbst zu betrügen“ (6:38). Wir beruhigen uns in unseren unmoralischen Handlungen und halten sie „vor dem Gesetze gerechtfertigt“. Kant spricht hier von einer „Unredlichkeit, sich selbst blauen Dunst vorzumachen“, d.h. sich selbst und in letzter Konsequenz auch andere zu belügen. Tatsächlich sehen wir nach Kant einer Handlung nicht an, ob sie moralisch oder unmoralisch ist. Wir können uns etwa entscheiden, wahrhaftig zu sein, um „unseren Lügen die Übereinstimmung zu erhalten und uns nicht in den Schlangenwindungen derselben selbst zu verwickeln“ (6:37).

Nach Kant ist der Mensch von Natur aus böse. Dies bedeutet nicht, dass der Mensch gar nicht anders als unmoralisch handeln kann, etwa weil er so aufgrund seiner Biologie so determiniert ist. Vielmehr besitzt der Mensch als Mensch einen „Hang zum Bösen“, selbst der moralisch beste Mensch besitzt einen solchen Hang. Dieser Hang ist allgemein, also für den Menschen notwendig, jedoch zugleich zufällig, weil unsere bösen Handlungen immer auf unsere Freiheit zurückzuführen sind, weswegen Kant ihn auch als „subjektiv notwendig“ bezeichnet: Wir können den Menschen in seinem Handeln gar nicht anders beurteilen, als dass er als Mensch den Hang zum Bösen hat, der ihm jedoch aus Freiheit zugerechnet werden können muss. Kant bezeichnet dieses Böse auch als „radikales Böses“. Damit ist nicht gemeint, dass der Mensch extrem böse ist, sondern dass er wurzelhaft böse ist, d.h. dass das Böse zu seiner Existenz immer schon gehört, in uns „verwurzelt“ ist. Das Böse ist demnach zwar „angeboren“, aber dennoch immer von uns in Freiheit selbst zugezogen (6:32). Ähnlich wie Leibniz besteht ein Grund des Bösen darin, dass der Mensch endlich ist und sich ihm individuelle Interessen, die in seiner empirischen Natur gründen, ihm „aufdringen“ (6:36). Der Mensch nimmt nach Kant sowohl das Prinzip der Selbstliebe wie auch das Sittengesetz in seine Maxime auf. Ob er gut oder böse handelt hängt davon ab, in welches Verhältnis er beide bringt: Ordnet er seine Individualinteressen dem Sittengesetz über, oder ordnet er sie ihm unter. Entscheidend für die moralische Bewertung einer Handlung ist also nicht die Frage, ob der Mensch seine Eigenliebe oder das Sittengesetz in seine Maxime aufnimmt (es kommt nicht auf die Art der Triebfeder an), sondern auf das Verhältnis bzw. die Ordnung zwischen beiden. Der Mensch handelt dadurch böse, dass er die moralische Ordnung umkehrt: nicht mehr steht das Sittengesetzt an oberster Stelle, sondern nun seine Selbstliebe.