Zusammenfassung: Thomas von Aquin und Leibniz über das Gute und Böse

Der mittelalterliche Philosoph Thomas von Aquin diskutiert in seiner Schrift „Summa Theologiae“ die Frage, inwiefern eine böse Handlung überhaupt existieren kann. Dabei verwendet er die scholastische Methode, die in der regelgeleiteten Abwägung und Diskussion von Thesen und Gegenthesen besteht. Zunächst diskutiert er die Frage, ob jede menschliche Handlung gut ist, oder ob es auch schlechte bzw. böse Handlungen gibt. Denn der Grund einer Handlung, ihre Motivation, scheint nur im Guten zu liegen. Wer handelt, der verfolgt in der Regel einen Zweck, d.h. etwas, was als gut erscheint. Warum sollte jemand auch bewusst das Schlechte oder Böse wollen? Thomas von Aquin diskutiert die Auffassung, wonach wir Handlungen hinsichtlich ihres Gut- oder Schlechtseins analog zu guten oder schlechten Dingen verstehen können: „In den Dingen aber hat ein jedes so viel Gutheit, wie es Sein hat“. Deswegen besteht das Schlechte oder Böse der Handlungen in einem Mangel an sein, wobei Thomas von Aquin an die Privationstheorie von Plotin anknüpft. Er erklärt die moralische Motivation einer Handlung dadurch, dass eine böse Handlung nur durch ein mangelhaftes Gutes wirksam wird. Die hervorgebrachte Handlung ist „ein bestimmtes mangelhaftes Gut, welches nur in bestimmter Hinsicht gut, im ganzen jedoch schlecht ist“. Thomas von Aquin unterscheidet vier Hinsichten des Gutseins einer Handlung: (1) generell, sofern sie am Sein teilhat, also in der Seinsfülle und nicht im Seinsmangel besteht; (2) speziell, sofern sie auf ein artgerecht bestimmtes Objekt als Gegenstand angemessen ausgerichtet ist; (3) kontextuell, sofern ihre Umstände als Akzidenzien gut waren und (4) teleologisch, sofern das Ziel der Handlung gut ist. Thomas erklärt die Tatsache, dass wir unmoralisch handeln dadurch, dass das Gute, auf das wir uns in der Handlung richten, „manchmal ein wirkliches und manchmal ein bloß scheinbares“ ist. Im letzteren Fall handeln wir unmoralisch. Hier stellt sich freilich die Frage, ob uns das Gute täuscht, oder ob wir uns selbst im Guten täuschen.

Während Augustinus und Thomas von Aquin vor allem das malum morale und das malum physicum ins Zentrum rücken und anhand der Struktur des Willens eher die subjektive Dimension des Bösen thematisieren, wendet sich Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) der Frage nach der kosmologischen Dimension des Bösen, dem malum metaphysicum, zu und stellt sich die Frage, in welchem Zusammenhang das Böse mit Gott und dem Universum steht. Leibniz’ Schrift Theodizee (von gr. theós, Gott, und diké, Gerechtigkeit) versucht, die Frage nach der Herkunft des Bösen angesichts der Allgüte und Allmächtigkeit Gottes mit der in ihr entwickelten Theorie der möglichen Welten zu beantworten. Eine mögliche Welt ist nach Leibniz ein beliebiger Zustand des Universums, solange er im Rahmen des logischen Raumes bleibt, d.h. logisch widerspruchsfrei gedacht werden kann. Leibniz vertritt nun die auf den ersten Blick kontraintuitive These, wonach die tatsächliche Welt von Gott als die beste aller möglichen Welten erwählt worden sei. Angesichts des unbestreitbar vorkommenden Schlechten – sei es physisch oder moralisch – erscheint diese These unmittelbar als wenig einleuchtend: Sollte unsere Welt wirklich die beste aller möglichen Welten sein? Darauf ließe sich doch leicht entgegnen: Nein, das ist sie gerade nicht, »denn die Welt hätte ja sündlos und ohne Leiden sein können « (T, 101). Dass eine solche Welt ohne Übel möglich wäre, will Leibniz gar nicht leugnen: »aber was ich bestreite, ist, daß sie dann besser wäre.« (ebd.)

Wie gelangt Leibniz zu dieser auf den ersten Blick ebenfalls kontraintuitiven These? Nach Leibniz ist jede Welt holistisch verfasst. Diese Ordnung macht er anhand eines Phänomens anschaulich, welches eine gewisse Ähnlichkeit mit dem sogenannten Schmetterlingseffekt hat: »[J]edwedes Universum ist ein Ganzes aus einem Stück, gleich dem Ozean; die geringste Bewegung breitet sich in beliebige Entfernung aus, wenn sie auch schwächer und schwächer wird entsprechend dieser Entfernung.« (ebd.) Aufgrund seiner metaphysischen Endlichkeit ist der Mensch faktisch nicht in der Lage, alle Konsequenzen einer Handlung oder eines Ereignisses abzusehen, so dass es ihm unmöglich ist, diese abschließend zu beurteilen. Bei der aktualen Welt handelt es sich Leibniz zufolge also um ein heikles, hochgradig austariertes System, welches angesichts der Ausgangsbedingung der menschlichen Endlichkeit die bestmögliche Realisierung der zugrunde liegenden Option darstellt: »Wenn somit das geringste Übel, das in der Welt eintrifft, fehlte, es wäre nicht mehr diese Welt, die, alles in allem, von dem sie auswählenden Schöpfer als die beste befunden worden ist.« (ebd.) »Zwar kann man sich«, so Leibniz, »Welten ohne Sünde und ohne Unglück vorstellen, und so etwas daraus machen wie die Romane von Utopien […]; aber diese Welten würden im übrigen der unsrigen erheblich nachstehen.« (T, 102)

Welches sind die Argumente, die Leibniz zu seiner These der besten aller möglichen Welten führen? Leibniz gibt zunächst einige Beispiele aus dem alltäglichen Leben, die den holistischen Zusammenhang der Welt näher erläutern sollen. Das Gute und Böse bzw. Schlechte sind relationale Begriffe, die für Menschen als metaphysisch endliche Wesen nur durch ihr jeweiliges Gegenteil Bedeutung und Realität erlangen: »Etwas Saures, Scharfes oder Bitteres gefällt oft besser als Zucker; der Schatten läßt die Farbe stärker hervortreten und selbst eine Dissonanz am rechten Platze hebt die Harmonie.« (T, 103) Ferner gilt nach Leibniz: »Nur aus Mangel an Achtsamkeit verkleinern wir unsere Güter, und es bedarf einiger Übel, um diese Achtsamkeit in uns wach werden zu lassen. Wären wir für gewöhnlich krank und selten bei guter Gesundheit, dann würden wir die Größe dieses Gutes wunderbar schätzen.« (ebd.) Ist dieses Argument aber nicht im Grunde genommen zynisch? Worin liegt der tiefere, logischmetaphysische Grund für das Böse?

Die Quelle des Bösen macht Leibniz in der »idealen Natur des Geschöpfes« (T, 110) aus, die vormoralisch verfasst ist: »Es gibt nämlich in der Kreatur eine ursprüngliche Unvollkommenheit vor aller Sünde, weil Begrenzung zum [logischen] Wesen der Kreatur gehört: daher kann sie nicht alles wissen, sich täuschen und andere Fehler begehen.« (ebd.) Diese ursprünglich endliche Verfasstheit der Kreatur ist der göttlichen Willkür entzogen. Als eine solche wesentliche Natur, die durch ewige Wahrheiten konstituiert ist, besteht sie nicht kraft göttlichen Willens, sondern kraft seines Verstandes. Leibniz leitet in diesem Zusammenhang das malum physicum und das malum morale aus dem noch grundlegenderen malum metaphysicum ab, das als eine Grundstruktur der Welt gelten kann: »Das metaphysische Übel besteht in der einfachen [d.h. logisch-metaphysischen] Unvollkommenheit.« (ebd.) Die »Unvollkommenheiten und Mängel der Handlungen«, so Leibniz, stammen »aus der ursprünglichen Begrenzung […], die die Kreatur durch die sie beschränkenden idealen Gründe von Anbeginn ihrer Existenz erhalten mußte. Gott konnte ihr nicht alles geben, ohne sie zum Gott zu machen; er mußte also stufenweise Unterschiede in der Vollkommenheit der Dinge und ebenso Beschränkungen jeder Art geben.« (T, 117)

Wie bestimmt Leibniz den ontologischen Status des Bösen? Im Ausgang von Augustinus und Thomas von Aquin vertritt er die These, »daß nämlich das Übel nur eine Beraubung des Seins ist, während die Tätigkeit Gottes auf etwas Positives gerichtet ist« (T, 115), und bezieht sich dabei auf das physikalische Phänomen der Trägheit, die man »als ein vollendetes Bild und als Muster für die ursprüngliche Beschränktheit der Geschöpfe [d.h. als malum metaphysicum] betrachten« könne (ebd.). So treiben unterschiedlich schwer beladene Schiffe aufgrund ihrer verschiedenen Trägheit unterschiedlich schnell einen Fluss hinab: »Der Stoff selbst also neigt ursprünglich zur Trägheit oder zum Mangel an Geschwindigkeit: er verringert sie nicht durch sich selbst, wenn er diese Geschwindigkeit schon erhalten hat, denn dann würde er handeln, aber er mindert die Wirkung des Eindrucks, den er erhalten soll, durch seine Empfänglichkeit.« (T, 116) Leibniz beschreibt diese Trägheit als eine »Art Widerwillen gegen das Bewegtwerden « (ebd.). Es besteht in einer Verschlossenheit, sich von dem Guten oder Wahren leiten zu lassen: »Die Strömung ist die Ursache für die Bewegung des Schiffes, aber keineswegs für ihre Verzögerung; Gott ist die Ursache für die Vollkommenheit in der Natur und in den Handlungen der Kreaturen, aber die beschränkte Rezeptivität der Kreatur ist die Ursache für die Mängel, auf die wir bei ihrer Tätigkeit stoßen.« (T, 117) Hier stellt sich freilich die Frage, ob das Phänomen des moralisch Bösen, soll es denn zurechenbar sein, durch Trägheit wirklich angemessen charakterisiert ist. Plausibel wird die Metapher der Trägheit dann, wenn man sie als eine bestimmte Form von Aktivität – als Trägheitskraft – versteht, die sich dem Guten in Form eines aktiven Verschließens widersetzt.