Schellings Begriff des Bösen (11.6.2018)

Schellings Theorie sammelt wie eine Linse die bisherigen historischen Auffassungen des Bösen und bündelt diese in einem neuen Begriff, der eine absolute Ausnahmestellung innerhalb der Geschichte der Philosophie einnimmt: Zum ersten Mal wird das Böse nicht mehr als Privation, sondern als durch und durch aktive Perversion verstanden. So zentral Schellings Begriff des Bösen auch ist, er muss erst mühsam unter einem dichten Gewand von romantischen Metaphern und Bildern zu Tage gefördert und in seiner argumentativen Struktur aufgedeckt werden. Hilfreich kann dabei sein, ihn auf bestehende Begriffe der philosophischen Tradition – Augustinus, Thomas von Aquin, Leibniz und Kant – zu beziehen.

Schelling untersucht das Böse vor dem Hintergrund der Konstitution des Menschen angesichts der Prinzipien der gesamten Schöpfung: „Das Prinzip, sofern es aus dem Grunde stammt und dunkel ist, ist der Eigenwille der Kreatur, der aber, sofern er noch nicht zur vollkommenen Einheit mit dem Licht (als Prinzip des Verstandes) erhoben ist (es nicht faßt), bloße Sucht oder Begierde, d. h. blinder Wille ist. Diesem Eigenwillen der Kreatur steht der Verstand als Universalwille entgegen, der jenen gebraucht und als bloßes Werkzeug sich unterordnet.“ (35) Wie ist der Eigenwille hier zu verstehen? Die Charakterisierung als „blinder Wille“ legt nahe, dass es sich noch nicht um einen bewussten, reflektierten Willen handelt. Ein solcher unbewusster Wille lässt sich mit Blick auf das Tier als Selbsterhaltungstrieb interpretieren.

Schellings Begriff des Bösen hängt aufs Engste mit seinem Begriff der individuellen menschlichen Person zusammen. Das Tier besteht aus einem dunklen Eigenwillen, der nicht selbstbestimmt ist, sondern durch den Universalwillen im Rahmen seiner Art und Gattung (oder auch der Evolution) als „Werkzeug“ gebraucht wird. Die Person versteht Schelling dagegen als eine Synthese aus Eigenwille und Universalwille, d.h. als einen vernünftig durchwirkten Eigenwille, der zu einem „sehenden“ Eigenwille erhoben wird, der sich selbst zum Universalwillen frei verhalten, ja diesen selbst als „Werkzeug“ gebrauchen kann.

Ebenso wie der Mensch als freie Person ein synthetisches Wesen ist, ist auch das Böse synthetischer Natur. Es besteht darin, „ein eignes und absonderliches Leben zu formieren oder zusammenzusetzen“ (38). Konkret bedeutet das Böse, aus dem Zentrum der Schöpfung herauszutreten. Der „Hang zum Bösen“ macht sich hier als Zentrifugalkraft bemerkbar. Schelling führt diese Zentrifugalkraft auf die „Angst des Lebens“ jedes Individuums zurück:

„Die Angst des Lebens selbst treibt den Menschen aus dem Centrum, in das er erschaffen worden: denn dieses als das lauterste Wesen alles Willens ist für jeden besonderen Willen verzehrendes Feuer; um in ihm leben zu können, muß der Mensch aller Eigenheit absterben, weshalb es ein fast notwendiger Versuch ist, aus diesem in die Peripherie herauszutreten, um da eine Ruhe seiner Selbstheit zu suchen.“ (53)

Schelling vergleicht das Böse im Folgenden mit einer „Krankheit“ (38). Der Vergleich mit einer Krankheit ist zunächst irritierend, scheint doch damit eine Privationstheorie des Bösen nahegelegt zu werden. Denn ist eine Krankheit nicht immer nur an einem gesunden Körper denkbar, also ein bloßer Mangelzustand desselben? Entscheidend ist hier allerdings, dass Schelling eine bestimmte Art von Krankheit vorschwebt: Keine bloße Entzündung, keine Erkältung des Körpers – das wäre eine bloße Privation –, sondern eher eine Tumorerkrankung. Eine solche Krankheit besitzt ein eigenes Organisationsprinzip, indem sie den gesunden Körper für ihre „Zwecke“ „missbraucht“ und sich parasitär einnistet.

Wie bei Kant, der das Böse als eine formale Struktur beschrieben und in der Überordnung der Individualinteressen über das moralische Gesetz verortet hatte, besteht das Böse nach Schelling in einer „positiven Verkehrtheit oder Umkehrung der Prinzipien“ (39) von Eigen- und Universalwille. Hinsichtlich der Elemente – Eigenwille und Universalwille – sind das Gute und das Böse nach Schelling identisch. Sie haben also dieselbe Basis, oder dasselbe Kraftpotential. Gut und Böse unterscheiden sich nur hinsichtlich der Form der Einheit beider Prinzipien. Gut ist diejenige Ordnung, in welcher der Eigenwille sich für das Universale einsetzt. Böse ist dasjenige, was parasitär das Allgemeine für bloß private Zwecke missbraucht; es ist eine „falsche Einheit“ (43), aber eben immer noch eine Einheit. Schelling wendet sich damit gegen eine Tendenz seines Zeitalters, die er als „Philanthropismus“ bezeichnet, der seiner Ansicht nach zur „Leugnung des Bösen“ (43) neigt. In dieser Hinsicht scheint Schellings Kritik durchaus auch für die heutige Zeit Geltung beanspruchen zu dürfen.

Schelling setzt sich beim Versuch der Entwicklung eines positiven Begriffs auch von Leibniz‘ Begriff des malum metaphysicum ab: „Unvollkommenheit im allgemeinen metaphysischen Sinn ist nicht der gewöhnliche Charakter des Bösen, da es sich oft mit einer Vortrefflichkeit der einzelnen Kräfte vereinigt zeigt, die viel seltener das Gute begleitet.“ (40f.) Hier wird der Unterschied zu allen vorherigen Theorien des Bösen sehr deutlich. Das Böse ist nach Schelling nichts Mangelhaftes, auch keine Trägheit, sondern eine bewusste willentliche Aktivität, die durchaus „vortrefflich“ sein kann: „wie es einen Enthusiasmus zum Guten gibt, ebenso gibt es eine Begeisterung des Bösen“ (44). Das Böse hat, wie Schelling betont, „ein Wesen“ (42).