Schopenhauers Theorie des Schlechten (18.6.2018)

Arthur Schopenhauers (1788–1860) Auseinandersetzung mit dem Bösen findet unter dem Vorzeichen seiner Metaphysik des Willens statt. In seiner Schrift Die Welt als Wille und Vorstellung (WWV) wird der Wille nicht nur als Vermögen einer individuellen Person thematisch, sondern als ein generelles Prinzip der Welt. Zugleich werden bei dieser Auseinandersetzung Schopenhauers außereuropäische Einflüsse, vor allem aus der indischen Philosophie der Upanischaden, sichtbar. Seine Behandlung des Bösen schwankt zwischen Individualität und Universalität des Bösen und hebt durch ihre metaphysische Tiefendimension die Unterscheidung von physischem und moralischem Übel auf. Dem malum metaphysicum bei Leibniz gibt sie so eine ganz andere Wendung. Dieses ist nicht nur ein Signum des endlichen Individuums, sondern ein Grundzug allen Lebens. Schopenhauer vertritt die These, dass es sich beweisen lasse, dass die Welt nicht, wie nach Leibniz, die beste aller möglichen, sondern die schlechteste aller möglichen Welten sei. Schopenhauer setzt dazu am Begriff des Glücks und der Zufriedenheit an. Er bestreitet, dass es eine „ursprünglich und von selbst auf uns kommende Beglückung“ gibt. Vielmehr muss eine Beglückung begrifflich immer schon „die Befriedigung eines Wunsches sein“, woraus folgt, dass der „Mangel […] die vorhergehende Bedingung jedes Genusses“ ist. Das Glück existiert nur in dem Moment, wo das Leiden gelindert wird, also im Übergang vom Leiden zum nicht-Leiden. Das Leiden besitzt damit apriorischen und gewissermaßen transzendentalen Status: „Unmittelbar gegeben ist uns immer nur der Mangel, d.h. der Schmerz. Die Befriedigung aber und den Genuß können wir nur mittelbar erkennen, durch Erinnerung an das vorhergegangene Leiden und Entbehren, welches bei seinem Eintritt aufhörte.“ (WWV I, 438) Für Schopenhauer ferner steht fest, „daß das Leiden dem Leben wesentlich ist und daher nicht von außen auf uns einströmt, sondern jeder die unversiegbare Quelle desselben in seinem eigenen Innern herumträgt“ (WWV I, 436 f.). Daraus folgt, dass „alles Glück nur negativer, nicht positiver Natur ist, daß es ebendeshalb nicht dauernde Befriedigung und Beglückung sein kann, sondern immer nur von einem Schmerz oder Mangel erlöst“ (WWV I, 439). Der Grund für diese Priorität des Mangels, Leidens und Übels in der Welt liegt in der allgemeinen Willensstruktur der Welt, die sich im individuellen Leben nur temporär auf konkrete Weise manifestiert, dann aber wieder auflöst und in anderen Formen erneut in Erscheinung tritt, so dass das individuelle Leben, „wenn man es im Ganzen und Allgemeinen übersieht und nur die bedeutendsten Züge heraushebt, eigentlich immer ein Trauerspiel“ ist (WWV I, 442). Die individuelle Manifestation des Willens bedingt einen Egoismus, dem zufolge nur der eigene Wille präsent ist und die Interessen der anderen Subjekte nur mittelbar gegeben sind. Für Schopenhauer steht fest, „daß jedes in der grenzenlosen Welt gänzlich verschwindende und zu nichts verkleinerte Individuum dennoch sich zum Mittelpunkt der Welt macht, seine eigene Existenz und Wohlsein vor allem andern berücksichtigt, ja auf dem natürlichen Standpunkte alles andere dieser aufzuopfern bereit ist, bereit ist die Welt zu vernichten, um nur sein eigenes Selbst, diesen Tropfen im Meer, etwas länger zu erhalten“ (WWV I, 455) . Der Egoismus ist nach Schopenhauer eine „so tief wurzelnde Eigenschaft aller Individualität überhaupt, daß, um die Tätigkeiteines individuellen Wesens zu erregen, egoistische Zwecke die einzigen sind, auf welche man mit Sicherheit rechnen kann“ (WWV II, 688). Die Möglichkeit der Erlösung aus dem Leiden der Welt wird nur im Phänomen des Mitleids sichtbar. Darin entziehen wir uns dem Egoismus und treten aus dem Leidenszusammenhang ein Stück weit heraus, indem nicht wir selbst leiden, sondern für den Anderen: „[E]in solcher Mensch, der in allen Wesen sich, sein innerstes und wahres Selbst erkennt, auch die endlosen Leiden alles Lebenden als die seinen betrachten und so den Schmerz der ganzen Welt sich zueignen muß. Ihm ist kein Leiden mehr fremd. Alle Qualen anderer, die er sieht und so selten zu lindern vermag, alle Qualen, von denen er mittelbar Kunde hat, ja die er nur als möglich erkennt, wirken auf seinen Geist wie seine eigenen. […] Er erkennt das Ganze, faßt das Wesen desselben auf und findet es in einem […] beständigen Leiden begriffen, sieht, wohin er auch blickt, die leidende Menschheit, die leidende Tierheit und eine hinschwindende Welt. Dieses liegt ihm jetzt so nahe, wie dem Egoisten nur seine eigene Person.“ (WWV I, 515)