Sitzung vom 18.1.2019: John Lockes Theorie der Freiheit (2)

John Locke argumentiert dafür, dass der Wille nicht frei genannt werden kann. Für diese auf den ersten Blick kontraintuitive These führt er verschiedene Argumente an. Zum einen argumentiert Locke, dass die Rede von dem freien Willen einem Kategorienfehler unterliegt: „Die Frage, ob der Wille des Menschen frei sei, ist ebenso sinnlos wie die, ob sein Schlaf geschwind oder seine Tugend viereckig sei. Denn die Freiheit läßt sich ebensowenig auf den Willen anwenden wie die Geschwindigkeit einer Bewegung auf den Schlaf oder die Figur eines Vierecks auf die Tugend.“ (286 f.) Freiheit ist nach Locke eine Kraft, und der Wille ist auch eine Kraft, weshalb die Rede vom „freien Willen“ bedeuten würde, der Kraft eine Kraft zuzusprechen, „was schon auf den ersten Blick zu absurd ist“. Locke bestimmt den Wille als „die Kraft (power) […], über seine eigenen Handlungen nachzudenken und eins von beiden, ihre Ausführung oder ihre Unterlassung, vorzuziehen.“ Freiheit ist dagegen „die Macht (power), die der Mensch hat, eine bestimmte Handlung zu tun oder zu unterlassen, je nachdem das eine oder andere in seinem Geist tatsächlich den Vorzug genießt; das heißt, mit andern Worten ausgedrückt, je nachdem wie er es selbst will.“ Nicht der Wille ist frei, sondern der Mensch ist frei, insofern sein Wille sich in eine Handlung ungehindert umsetzt. Freiheit ist die Kraft, „die ein Mensch in sich hat, um durch Wahl oder Bevorzugung eine Bewegung in einzelnen Teilen seines Körpers zu erzeugen oder die Erzeugung zu unterlassen.“ Hier stellt sich nun die Frage, wie sie die Kraft des Willens zur Kraft der Freiheit verhält. Locke vertritt die These, dass es sich um verschiedene Arten von Kräften handle. Man kann ihn aber auch so lesen, dass Wille und Freiheit verschiedene Modi derselben Kraft sind. Der Wille wäre demnach nur die Potenz oder Fähigkeit der Kraft (ihr „Betrag“ oder ihre „Innenseite“), und die Freiheit die Wirklichkeit bzw. Verwirklichung der Kraft in Form einer Handlung (ihre „Außenseite“). Locke wendet sich auch gegen die Auffassung, wonach Fähigkeiten wie der Wille oder die Vernunft handelnde Wesen seien. Es ist nicht der Verstand, der den Willen lenkt, sondern der Mensch gebraucht seine Vermögen, indem er diese auf einander bezieht. Nicht die Kräfte wirken aufeinander, „sondern der Geist wirkt und entfaltet diese Kräfte; der Mensch verrichtet die Tätigkeit, das tätige Wesen hat die Kraft oder ist fähig zu handeln. Denn Kräfte sind Relationen, nicht handelnde Wesen; nur das, was die Kraft zu wirken besitzt oder nicht besitzt, ist frei oder nicht frei; die Kraft selbst ist es nicht. Denn Freiheit oder Unfreiheit kann nur dem zukommen, was die Kraft zu handeln besitzt oder nicht besitzt.“ Freilich hatte der spätantike Philosoph Augustinus bereits lange vor Locke drei Dimensionen des Geistes unterschieden: Erinnerung (memoria), Einsicht (intelligentia) und Wille (voluntas). Diese drei sind nicht als Substanzen oder isolierte Wesenheiten zu denken, sondern drei Momente oder Formen der einen lebendigen Substanz, die Augustinus „Leben“ (vita) oder „Geist“ (mens) nennt. Alle Momente des Geistes sind ihrerseits wiederum selbstreflexiv verfasst und zudem durch ihre „beziehentliche Wirklichkeit“ (relative): Sie werden immer „in Beziehung ausgesagt“. Da für Locke der Wille nicht frei genannt werden kann, vertritt er eine Theorie der Handlungsfreiheit: „So weit nun diese Kraft reicht, zu handeln oder nicht zu handeln, je nachdem ob die Entscheidung seines Denkens die eine oder die andere Möglichkeit bevorzugt, so weit ist ein Mensch frei. Denn wie könnten wir uns jemand freier denken, als wenn er die Kraft hat, zu tun, was er will? Soweit nun jemand dadurch, daß er ein Handeln dem Unterlassen, die Ruhe einem Handeln vorzieht, solches Handeln oder solche Ruhe zu bewirken vermag, so weit kann er tun, was er will.“ Der Wille kann nach Locke – anders als nach Frankfurt – nicht mehr weiter gewollt werden, da dies in einen unendlichen Regress führen würde: „Wenn man dem Menschen in diesem Sinn Freiheit zuschreibt, indem man die Tätigkeit des Wollens von seinem Willen abhängig sein läßt, muß man außerdem noch einen zweiten, voraufgehenden Willen annehmen, der die Akte dieses Willens bestimmt, und einen dritten, der wieder diesen bestimmt usw. in Infinitum; denn sobald der eine aufhört, können die Handlungen des letzten Willens nicht frei sein.“