Zusammenfassung der 1. Sitzung vom 29.4.2019: Einführung in das Unmoralische

Warum sollte man sich in einem philosophischen Seminar überhaupt mit dem Phänomen des Unmoralischen befassen? Lässt es sich überhaupt begrifflich analysieren, oder ist es nur ein Defekt des Moralischen? Dies legen jedenfalls Wörter wie Intoleranz, Missachtung und Untreue nahe. Warum befassen wir uns dann nicht gleich einfach mit dem Moralischen? Dagegen steht die These des Seminars, dass wir gerade (oder sogar nur?) über das Phänomen des Unmoralischen tiefere Einsichten in das Moralische gewinnen können. Dies hängt damit zusammen, dass es Menschen als endliche Wesen sind, die unmoralische Handlungen begehen. Es scheint, dass wir als solche keinen direkten, unmittelbaren Zugang zum Moralischen haben, sondern immer erst unmoralische Tendenzen in uns überwinden müssen, nur mittelbar moralisch sind. Wir lernen also gerade dann etwas über die Toleranz, wenn wir die Intoleranz thematisieren, und nur dann etwas über Respekt, wenn wir verstanden haben, was Missachtung ist (und wie sie sich anfühlt). Wir wollen deswegen im Seminar eine doppelte Perspektive zugrunde legen, die den Täter und das Opfer der jeweiligen Form des Unmoralischen betrifft. Folgende Fragen sollen dabei im Zentrum stehen: Wie verhält sich das „Böse“ zum „Unmoralischen“? Wie können wir erkennen, was unmoralisch ist? Welche Formen des Unmoralischen gibt es? Gibt es eine qualitative Skala des Unmoralischen? Worin liegt der Grund unmoralischen Handelns? Was ist eigentlich unmoralisch: Die Handlung, der Wille, oder die Person?

Das Unmoralische stellt uns vor besondere Herausforderungen. Es muss phänomenologisch und begrifflich erfasst werden. Dabei droht es sich naturgemäß uns zu entziehen. Es hat eine innere Struktur, die häufig aus verschiedenen Momenten besteht, die eine Handlung konstituieren. So etwa bei der Lüge: Wir fassen einen Vorsatz, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, welches wir nur dann erreichen können, wenn wir nicht die Wahrheit sagen bzw. den anderen hinters Licht führen. Dies zeigt: Das Unmoralische gründet nicht in unserer Passivität, sondern unserer Aktivität. Die mit viel Intelligenz verbunden sein kann. Indem wir das Unmoralische thematisieren, berühren wir die Bereiche der Handlungstheorie, der Moralpsychologie, der normativen Ethik und nicht zuletzt der Metaphysik. Denn wir können streng genommen nur dann von unmoralischen Handlungen reden, wenn wir zuvor vorausgesetzt haben, dass wir freie Wesen sind. Begriffe des Unmoralischen (wie auch der Begriff des Bösen) sind nicht nur deskriptiv, sondern normativ-pragmatisch relevant. Wir beschreiben damit nicht nur Handlungen und Menschen, sondern tun etwas: wir stigmatisieren sie, stellen sie in eine bestimmte Ecke.