Nachdem bei Augustinus und Thomas von Aquin eher die subjektive Dimension des Bösen anhand der Struktur des Willens thematisiert wurde, wobei vor allem das malum morale und das malum physicum im Zentrum standen, wendet sich Leibniz der Frage nach der kosmologischen Dimension des Bösen, dem malum metaphysicum, zu. Die Leitfrage lautet dabei: Wie steht das Böse im Zusammenhang mit dem Ganzen – also Gott und dem Universum? Und wie verträgt es sich mit Gottes Prädikaten der Allmächtigkeit, der Allgüte und der Allwissenheit? Falls Gott das Übel zulässt, obwohl der allmächtig ist, würde daraus folgen können, dass er nicht allgütig ist. Falls Gott das Böse nicht zulassen will, aber es nicht verhindern kann, wäre seine Allmächtigkeit in Gefahr. Leibniz argumentiert nun dafür, dass die gesamte wirkliche Welt samt ihres Übels eine Notwendigkeit und Rationalität besitzt, die sie vor allen anderen möglichen Welten auszeichnet: „Unsere Absicht ist es, die Menschen von ihren falschen Vorstellungen abzubringen, als ob Gott ein absoluter Fürst sei, nach Willkür verfährt und wenig geeignet und würdig ist, geliebt zu werden.“ (99) Was will Leibniz damit sagen? Auch Gottes Handeln unterliegt denselben logischen Prinzipien wie dasjenige des Menschen, es ist nicht in diesem Sinne willkürlich, dass es nach einer dem Menschen prinzipiell entzogenen Logik geschähe. So gilt nach Leibniz, „daß es unendlich viel mögliche Welten gibt, von denen Gott mit Notwendigkeit die beste erwählt hat, da er nichts ohne höchste Vernunft tut.“ (101)
Leibniz versucht, die Frage nach der Herkunft des Bösen mit seiner Theorie der möglichen Welten zu beantworten. Eine mögliche Welt ist ein beliebiger Zustand des Universums (all dessen, was existiert), solange er im Rahmen des logischen Raumes bleibt, d.h. logisch widerspruchsfrei gedacht werden kann. Nun vertritt Leibniz die auf den ersten Blick kontraintuitive These, wonach die tatsächliche Welt als die beste aller möglichen Welten von Gott erwählt worden sei. Diese These erscheint angesichts des unbestreitbar vorkommenden Schlechten – sei es physisch oder moralisch – als unmittelbar kontraintuitiv: Ist unsere Welt wirklich die beste aller möglichen Welten? Man könnte doch darauf entgegnen: Nein, das ist sie gerade nicht, „denn die Welt hätte ja sündlos und ohne Leiden sein können“ (ebd.). Dass eine solche Welt ohne Übel möglich wäre, will Leibniz gar nicht leugnen: „aber was ich bestreite, ist, daß sie dann besser wäre.“ (ebd.)
Wie gelangt Leibniz zu dieser ebenfalls auf den ersten Blick kontraintuitiven These? Nach Leibniz ist jede Welt und die darin versammelten Existenzen holistisch verfasst. Er beschreibt diese Verfasstheit einer jeden Welt durch ein Phänomen, welches eine gewisse Ähnlichkeit mit dem sog. „Schmetterlingseffekt“ hat: „[J]edwedes Universum ist ein Ganzes aus einem Stück, gleich dem Ozean; die geringste Bewegung breitet sich in beliebige Entfernung aus, wenn sie auch schwächer und schwächer wird entsprechend dieser Entfernung.“ (ebd.) Auf Grund seiner metaphysischen Endlichkeit ist der Mensch faktisch nicht in der Lage, alle Konsequenzen einer Handlung oder eines Ereignisses abzusehen, so dass es ihm epistemisch unmöglich ist, dieses abschließend zu beurteilen. Es handelt sich nach Leibniz bei der aktualen Welt um ein heikles, hochgradig austariertes (Öko)System, welches angesichts der Ausgangsbedingung der menschlichen Endlichkeit die bestmöglichste Option ist, auch wenn sich diese Harmonie der menschlichen Erkenntnis entzieht: „Wenn somit das geringste Übel, das in der Welt eintrifft, fehlte, es wäre nicht mehr diese Welt, die, alles in allem, von dem sie auswählenden Schöpfer als die beste befunden worden ist.“ (ebd.). „Zwar kann man sich“, so Leibniz, „Welten ohne Sünde und ohne Unglück vorstellen, und so etwas daraus machen wie die Romane von Utopien […]; aber diese Welten würden im übrigen der unsrigen erheblich nachstehen.“ (102)
Welches sind die Argumente, die Leibniz zu einer These der besten möglichen Welt führen? Leibniz gibt uns zunächst einige Beispiele aus dem alltäglichen Leben, die den holistischen Zusammenhang der Welt näher erläutern sollen. Das Gute und Böse/Schlechte sind relationale Begriffe, die für Menschen als metaphysisch endliche Wesen nur durch ihr jeweiliges Gegenteil Bedeutung und Realität erlangen: „Etwas Saures, Scharfes oder Bitteres gefällt oft besser als Zucker; der Schatten läßt die Farbe stärker hervortreten und selbst eine Dissonanz am rechten Platze hebt die Harmonie.“ (103) „Nur aus Mangel an Achtsamkeit verkleinern wir unsere Güter, und es bedarf einiger Übel, um diese Achtsamkeit in uns wach werden zu lassen. Wären wir für gewöhnlich krank und selten bei guter Gesundheit, dann würden wir die Größe dieses Gutes wunderbar schätzen.“ (ebd.) Aber ist dieses Argument nicht im Grunde genommen zynisch? Worin liegt der tiefere, logisch-metaphysische Grund für das Böse?
Die Quelle des Bösen liegt nach Leibniz in der „idealen Natur des Geschöpfes“ (110), die als solche vormoralisch verfasst ist: „Es gibt nämlich in der Kreatur eine ursprüngliche Unvollkommenheit vor aller Sünde, weil Begrenzung zum [logischen] Wesen der Kreatur gehört: daher kann sie nicht alles wissen, sich täuschen und andere Fehler begehen.“ (ebd.) Diese ursprünglich endliche Verfasstheit der Kreatur ist der göttlichen Willkür entzogen. Als eine solche wesentliche Natur, die durch ewige Wahrheiten konstituiert ist, besteht sie nicht im göttlichen Willen, sondern in seinem Verstand, wie Leibniz sagt. Leibniz unterscheidet in diesem Zusammenhang neben dem malum physicum und dem malum morale auch noch zwischen dem malum metaphysicum: „Das metaphysische Übel besteht in der einfachen [d.h. logisch-metaphysischen] Unvollkommenheit.“ (ebd.) Die „Unvollkommenheiten und Mängel der Handlungen“, so Leibniz, stammen „aus der ursprünglichen Begrenzung […], die die Kreatur durch die sie beschränkenden idealen Gründe von Anbeginn ihrer Existenz erhalten mußte. Gott konnte ihr nicht alles geben, ohne sie zum Gott zu machen; er mußte also stufenweise Unterschiede in der Vollkommenheit der Dinge und ebenso Beschränkungen jeder Art geben.“ (117)
Die Schöpfung endlicher Wesen gehört zum Begriff Gottes. Gott ohne Schöpfung wäre nicht allmächtig und allgütig. Da Gott kein absolutes Wesen erschaffen kann, ohne sich selbst zu beschränken, ist eine endliche Schöpfung die einzig mögliche. Dass diese endliche Schöpfung sich, wie im Falle des freien Menschen, auch explizit gegen Gott wenden kann, darf nicht so sehr als eine Einschränkung seiner Allmacht verstanden werden. Vielmehr zeigt sich gerade darin seine Allmacht und Allgüte, dass er Wesen geschaffen hat, die eigenständig sind und damit einen gewissen Grad an Absolutheit – wenn auch endlicher – besitzen.
Wie bestimmt Leibniz den ontologischen Status des Bösen? Leibniz vertritt im Ausgang von Augustinus und Thomas von Aquin die These, „daß nämlich das Übel nur eine Beraubung des Seins ist, während die Tätigkeit Gottes auf etwas Positives gerichtet ist.“ (115) Er bezieht sich auf das physikalische Phänomen der Trägheit, die man „als ein vollendetes Bild und als Muster für die ursprüngliche Beschränktheit der Geschöpfe [d.h. als malum metaphysicum] betrachten“ könne (ebd.). So treiben aufgrund ihrer Trägheit unterschiedlich schwer beladene Schiffe unterschiedlich schnell einen Fluss hinab: „Der Stoff selbst also neigt ursprünglich zur Trägheit oder zum Mangel an Geschwindigkeit: er verringert sie nicht durch sich selbst, wenn er diese Geschwindigkeit schon erhalten hat, denn dann würde er handeln, aber er mindert die Wirkung des Eindrucks, den er erhalten soll, durch seine Empfänglichkeit.“ (116) Leibniz beschreibt diese Trägheit als eine „Art Widerwillen gegen das Bewegtwerden“ (ebd.) und trifft damit recht gut das Wesen des Bösen: Es besteht in einer Verschlossenheit, sich von dem Guten oder Wahren leiten zu lassen: „Die Strömung ist die Ursache für die Bewegung des Schiffes, aber keineswegs für ihre Verzögerung; Gott ist die Ursache für die Vollkommenheit in der Natur und den Handlungen der Kreaturen, aber die beschränkte Rezeptivität der Kreatur ist die Ursache für die Mängel, auf die wir bei ihrer Tätigkeit stoßen.“ (117) Ähnlich wie bei Thomas von Aquin besteht das Böse im nicht weit genug reichenden (d.h. trägen) Erstreben von Gütern: „Der Wille ist im allgemeinen auf das Gute gerichtet; er soll auf die uns zustehende Vollkommenheit gehen, während die höchste Vollkommenheit allein in Gott ist. Alle Arten der Freude schließen irgendeine Vollkommenheit ein, wenn man sich aber auf sinnliche oder andere Freuden beschränkt zum Nachteil weit größerer Güter, wie der Gesundheit, der Tugend, der Vereinigung mit Gott, der Glückseligkeit, so besteht der Fehler in der Hemmung alles ferneren Strebens.“ (118)