Zusammenfassung Seminar „Die Sünde und das Böse“ (5. Sitzung, 7.5.2018: Martin Luther)

Martin Luther (1483-1546) befasst sich mit dem Phänomen des Bösen und der Sünde vor dem Hintergrund des Verhältnisses von Gott und Mensch. Dieses Verhältnis ist für ihn seit dem Sündenfall im Paradies brüchig geworden, so dass sich die Frage stellt, wie es in postlapsarischen Zeiten wieder hergestellt werden kann. Seit seiner Jugend litt Luther an dem Gedanken der Sündhaftigkeit des Menschen angesichts der Gebote der Bibel, die er glaubte nur unzureichend befolgen zu können und weswegen er schreckliche Angst vor Gottes Strafe hatte und durch besondere Frömmigkeit der Strafe zu entkommen suchte. Luthers „reformatorische Einsicht“ besteht darin, dass das Individuum gar nicht aus dieser Sündenverstrickung aus eigener Kraft entkommen kann. Gott richtet in seiner Gerechtigkeit nicht den Menschen im Sinne der Bestrafung wegen der Übertretung der Gesetze, sondern macht ihn vielmehr gerecht. Es handelt sich also bei der Wendung „Gerechtigkeit Gottes“ in Römer 1,17 nicht um eine aktive Gerechtigkeit (das Richten), sondern um eine passive (das Rechtfertigen oder gerecht-Machen). Dies bedeutet aber nicht, dass wir uns guten Gewissens zurücklehnen können im Bewusstsein des gerechtfertigt-Werdens durch Gott, sondern vielmehr, dass wir in der Erlangung des Heils zutiefst von Gott abhängig sind. Der Mensch steht also gewissermaßen mit einem Bein im Paradies, mit einem anderen außerhalb. Luther bringt diese Abhängigkeit durch die gegenseitige Verweisung seiner vier solisola scriptura (allein durch die Schrift), sola gratia (allein durch Gnade), sola fide (allein durch Glaube), solus Christus (allein [durch] Christus) – auf den Begriff. Theologisch steht Luther dabei in einer Nähe zu Augustinus (er selbst war in seiner Erfurter Zeit Augustinermönch), insofern sich seine Theologie gegen die Auffassung des Pelagianismus wendet, wonach wir aus freier Entscheidung das Gute wählen und uns vom Bösen abwenden können, ohne dazu der Hilfe Gottes zu bedürfen. In seinen Disputation gegen die scholastische Theologie aus dem Jahr 1517 – dem selben Jahr, in dem Luther auch die 95 Thesen gegen den Ablasshandel verfasste – vertritt Luther die These, dass der Mensch „nur Schlechtes (mala) wollen und tun kann“. Zugleich vertritt er die Auffassung, „dass das freie Begehren nach beiden entgegengesetzten Richtungen hin etwas vermag; vielmehr ist es gar nicht frei, sondern gefangen“. Wie ist dieser scheinbare Widerspruch aufzulösen? Luther scheint im Falle des Bösen von der Handlungsfreiheit des Menschen auszugehen: Wir wollen in postlapsarischen Zeiten immer schon das Böse und können es auch tun (und tun es auch faktisch). Doch steht es uns nicht frei, dieses Wollen des Bösen wiederum zu wollen oder nicht zu wollen. Dies scheint Luther mit der Unmöglichkeit der entgegengesetzten Entscheidung zu meinen, so dass er die menschliche Willensfreiheit bestreitet. Ebenso widerspricht Luther der Auffassung, „dass der Wille sich von Natur aus nach der richtigen Anweisung [der Vernunft] ausrichten könne“ – eine These, die in der mittelalterlichen Scholastik, unter anderem von Duns Scotus vertreten worden war. Die Vernunft ist für Luther grundsätzlich und gegenüber dem Wort der Bibel problematisch – so problematisch, dass er sie sogar „Hure Vernunft“ nennt, da sie sich seiner Auffassung nach für verschiedene Zwecke instrumentalisieren lässt. Gegenüber der Auffassung der Manichäer vertritt Luther die Auffassung, dass der Mensch nicht aus böser Materie geschaffen worden ist, dass jedoch seine Natur nach dem Sündenfall beschädigt wurde. In seiner Schrift Über die Unfreiheit des Entscheidungsvermögens (de servo arbitrio) aus dem Jahr 1525 wird Luther so weit gehen zu sagen, dass der Mensch nur ein Reittier Gottes und des Teufels ist: Handelt er gut, dass reitet ihn Gott, handelt er böse, dann der Teufel.